Diamantweg-Buddhismus (Karma-Kagyü Linie, Ole Nydahl)
Herkunft & Hintergrund: Der Diamantweg-Buddhismus ist eine Sonderentwicklung innerhalb der tibetischen Karma-Kagyü-Schulrichtung. Seine Entstehung ist eng verknüpft mit dem dänischen Ehepaar Ole und Hannah Nydahl. Diese reisten 1968 auf Hochzeitsreise nach Nepal, wo sie mit dem 16. Karmapa Rangjung Rigpe Dorje zusammentrafen – dem Oberhaupt der Karma-Kagyü. Sie wurden dessen Schüler, lernten Meditation und Ole behauptet, der Karmapa habe ihn beauftragt, den Buddhismus im Westen zu verbreiten (Urteil gegen den buddhistischen „Lama“ Ole Nydahl – EZW) (Urteil gegen den buddhistischen „Lama“ Ole Nydahl – EZW). 1972 kehrten sie nach Europa zurück und gründeten in Kopenhagen das erste Zentrum. Es folgten weitere in Europa, dann USA, Lateinamerika, Russland. Ole Nydahl reiste unermüdlich, hielt Vortragsrallyes und sprang mit Fallschirm aus Flugzeugen – er kultivierte das Image eines „Kamikaze-Lamas“, der völlig unkonventionell ist, aber dem es gelingt, junge Menschen für den Buddhismus zu begeistern.
Unter dem Begriff „Diamantweg“ (eine Übersetzung von Vajrayāna) etablierte Ole ein loses Netzwerk von Zentren. Diese Zentren praktizieren eine vereinfachte Form der Karma-Kagyü-Tradition, speziell in der Linie der Shangpa-Kagyü, von der Ole Meditationen erhielt. In den 1990ern professionalisierte sich die Organisation: Es entstand der Verein Diamantweg e.V. in Deutschland und analoge Organisationen in anderen Ländern. Als der 16. Karmapa 1981 starb, kam es bekanntlich zu einer kontroversen Doppel-Inthronisierung zweier 17. Karmapas (Thaye Dorje vs. Ogyen Trinley). Ole Nydahl stellte sich auf die Seite von Thaye Dorje, was einen Bruch mit Teilen der Kagyü-Schule bedeutete. Sein Diamantweg fungiert seither weitgehend eigenständig vom traditionellen Kloster-Kagyü.
Lehre & Praxis: Diamantweg-Zentren folgen inhaltlich grundsätzlich der Karma-Kagyü-Lehre, die bekannte Praxiswege umfasst wie die Ngöndro (Vier Grundübungen: 111.111x Niederwerfungen, etc.), Guru-Yoga auf den 8. Karmapa, Mahamudra-Meditation (die große Siegel-Erfahrung der Geistnatur), Phowa (Bewusstseinsübertragung im Moment des Todes) und so weiter. Ole Nydahl hat aus diesem Fundus diejenigen Methoden ausgewählt, die er für westliche Laien passend hielt:
- Zentral ist die Meditation auf den 16. Karmapa. In jedem Diamantweg-Zentrum gibt es mehrmals wöchentlich sogenannte „Mitgliedsmeditationen“, wo gemeinsam ein vorgegebenes kurzes Sadhana praktiziert wird: Visualisation des 16. Karmapa über dem Kopf, Mantra „Karmapa Chenno“ rezitieren, Auflösen in Licht. Diese Meditation ist kurz (15–30 Min) und soll Segen des Linienhalters bringen.
- Zusätzlich wird Wert gelegt auf Mahamudra-Sichtweise, also die philosophische Unterweisung, dass alles Erscheinende Geist ist und dieser letztlich leer und offen. Oles Vorträge versuchen oft, den Zuhörern einen „Ersteindruck vom Raum des Geistes“ zu vermitteln.
- Es gibt Ngöndro-Gruppen, in denen längere Praktiken (z.B. 100k Niederwerfungen) gemeinsam geübt werden, allerdings beteiligen sich daran nur engagiertere Mitglieder.
- Phowa-Kurse: Ole bietet regelmäßig ein intensives 5-Tage-Programm an, das sogenannte Phowa (Austritt des Bewusstseins durch die Kopföffnung) lehren soll. Hunderte Schüler nehmen daran teil, am Ende gibt es das Zeichen einer kleinen Öffnung auf dem Scheitel (was als Erfolg gilt). Dieses Angebot ist einzigartig, denn traditionell wird Phowa nur sehr fortgeschrittenen Mönchen gelehrt, Ole hingegen gibt es in Massenveranstaltungen.
- Belehrungen & Studium: Anders als bei Gelug oder Sakya gibt es im Diamantweg kein systematisches Studium buddhistischer Philosophie. Ole bevorzugt direkte Kommunikation. Es gibt aber Bücher (viele von Ole selbst geschrieben: „Wie die Dinge sind“, „Der Buddha und die Liebe“ etc.), die als Grundlagen dienen. Und es werden Kurse zu Grundlagen (Vier Wahrheiten, Karma, Meditation) von erfahrenen Laienlehrern gegeben.
- Freizeiten: Ein Markenzeichen sind große Sommerkurse im Europe Center (Allgäu) oder Wintertreffen, wo lockere Festivalatmosphäre mit Dharma kombiniert wird – es wird meditiert, aber auch viel gefeiert.
Die Vermittlung ist betont locker und kameradschaftlich. Diamantweg betont, dass man Freude auf dem Weg haben soll, nicht zu verkniffen sein. Ein häufiger Spruch: „Der Buddhismus ist kein Kloster auf dem Kopf, sondern ein Lächeln im Gesicht.“ Daher wirken Diamantweg-Treffen auf Neulinge oft erstaunlich ungezwungen: man duzt sich, trinkt Bier nach der Meditation, zieht Jeans statt Robe an. Das Setting ist bewusst unreligiös gehalten – Oles Buch heißt ja „Buddhismus für jeden“.
Spiritualität: Trotz dieses lockeren Stils bleibt der Diamantweg inhaltsmäßig Vajrayāna. Das heißt: Man glaubt an erleuchtete Schutzfelder, vertraut auf die Segenskraft von Mantras und sieht Ole Nydahl zumindest in der Theorie als Lama, also als in einer Linie stehend mit den großen Meistern Tibets, der den Zugang zum „Diamantgeist“ vermittelt. Daher gibt es intern durchaus starke Hingabe – manche Schüler verehren Ole als quasi erleuchtet (obwohl er selbst wohl nie solche Ansprüche stellt, aber er wird als „Lama Ole“ bezeichnet und seine Worte haben Gewicht).
Mystische Aspekte werden im Diamantweg mit modernem Vokabular überzogen: Man spricht lieber von „Raum und Energie“ als von Göttern und Dämonen. Aber im Kern akzeptieren Diamantweg-Anhänger durchaus Dinge wie Wiedergeburt, unsichtbare Kräfte und erleuchtete Aktivität. Sie sehen sich als Bodhisattvas in Ausbildung, die in diesem Leben die Erleuchtung erreichen können („Phowa als Ticket ins Reine Land“ ist z.B. eine motivierende Aussicht, die Ole oft gibt – d.h. wer Phowa beherrscht, kann im Moment des Todes ins Reine Land gelangen, was dem Nirvana gleichkommt).
Präsenz und Struktur in Deutschland: In den 1990ern wuchs Diamantweg enorm in Deutschland. Es gibt hier über 100 Gruppen und Zentren, meist gemietet in normalen Wohnungen oder Hinterhäusern, wo ein buddhistischer Altar mit Karmapa-Bild eingerichtet ist. Die Organisation erfolgte zunächst innerhalb der DBU, wo Diamantweg viele Mitglieder stellte. 2008 kaufte der internationale Diamantweg ein großes Gelände im Allgäu als zentrales Europe Center, das zum globalen Hauptsitz wurde. 2019 kam es dann zum Eklat: Wegen Oles umstrittener Aussagen wollte die DBU über einen Ausschluss beraten; dem kam Diamantweg zuvor und trat selbst aus der DBU aus (Umstrittener Meister – Unter den Buddhisten schwelt der Streit). Seitdem agiert Diamantweg völlig eigenständig als Buddhistischer Dachverband Diamantweg (BDD) in Deutschland, mit vermutlich mehreren tausend Anhängern.
Ole Nydahl selbst ist mittlerweile über 80, reist aber noch immer, allerdings reduziert. Jüngere Reiselehrer (erfahrene Schüler) übernehmen mehr und mehr die Aufgabe, Zentren zu besuchen und zu lehren.
Kontroversen und Kritik: Der Diamantweg ist vielleicht der umstrittenste Teil des deutschen Buddhismus in den letzten Jahren. Hauptkritikpunkte:
- Islamfeindlichkeit/Rassismus-Vorwürfe: Ole Nydahl hat wiederholt in Vorträgen den Islam als gefährlich bezeichnet, pauschale Aussagen über Muslime gemacht und die Zuwanderung nach Europa kritisiert. Dies wurde in Medien aufgegriffen; ein Deutschlandfunk-Beitrag 2019 nannte ihn „umstrittener Meister“ mit islamfeindlichen Äußerungen (Umstrittener Meister – Unter den Buddhisten schwelt der Streit). Ole wehrte sich juristisch gegen die Kritik. 2021 entschied jedoch der Oberste Gerichtshof in Wien zugunsten eines Kritikers und befand, man dürfe Ole einen „Rechtsextremen und pauschalen Islamfeind“ nennen (Urteil gegen den buddhistischen „Lama“ Ole Nydahl – EZW). Dieser richterliche Befund ist ein schwerer Schlag für sein Ansehen. Diamantweg-Anhänger argumentieren, Zitate seien aus dem Zusammenhang gerissen, Ole meine lediglich den politischen Islam usw. Dennoch bleibt die Außendarstellung beschädigt. Es gab sogar politische Anfragen, ob der Verfassungsschutz Diamantweg beobachten sollte, was aber abgelehnt wurde (Umstrittener Meister – Unter den Buddhisten schwelt der Streit).
- Personenkult: Manche Beobachter empfinden um Ole einen quasi-guruhaften Kult. Obwohl Ole immer betont, er sei nur ein „Diamantweg-Lehrer“ und kein allwissender Guru, ist seine Autorität in den Zentren sehr groß. Seine Lebensgeschichte, seine teils riskanten Stunts (Motorradfahren, Fallschirmsprünge) und sein Charisma ziehen viele an, aber stoßen andere ab. Kritiker (auch Ex-Schüler) sagen, Diamantweg verhalte sich sektenartig: absolute Linientreue zu Ole, Ausblendung kritischer Stimmen, glorifizierende Darstellungen im hauseigenen Magazin etc.
- Fehlende Checks & Balances: Anders als z.B. in der Gelug-Schule, wo es Klosteruniversitäten und gesammeltes Wissen gibt, hängt im Diamantweg viel am persönlichen Charisma Oles. Einige befürchten, nach Ole könnte die Bewegung zerfallen oder orientierungslos werden, da es keine klaren Nachfolger gibt, die sein Standing haben.
- Fehlende traditionelle Tiefe: Aus Sicht traditioneller Lamas ist Oles Ausbildung fraglich – er war kein langjähriger Mönch, hat kein dreijähriges Retreat gemacht, seine Lama-Qualifikation wird von manchen Tibeter*innen angezweifelt (Urteil gegen den buddhistischen „Lama“ Ole Nydahl – EZW). Daher wird der Diamantweg in tibetischen Kreisen oft nicht ganz ernst genommen, als „Pop-Buddhismus“. Allerdings erkennen fairerweise viele an, dass Ole gewaltig viele Leute zum Buddhismus gebracht hat – und einige wechseln später von Diamantweg ins traditionelle Lager, was ja auch ein Weg ist.
Bemerkenswert: Sexuelle Skandale oder Finanzskandale hat es im Diamantweg nicht gegeben (zumindest nichts Öffentliches). Ole propagiert eine freizügige Sexualmoral (er ist Witwer seit 2007 und hat seitdem sehr junge Freundinnen öffentlich an seiner Seite; Sexualität sieht er grundsätzlich positiv im Dharma-Kontext – solange bewusst und karmisch ok). Das kann man kritisch sehen, aber es gab keine Klagen, dass Ole z.B. jemand gegen Willen bedrängt hätte. Finanzielle Transparenz wird offenbar gewahrt, da Zentren eigenständig wirtschaften.
Die größte Herausforderung wird sein, wie der Diamantweg sich in der post-Ole-Ära positioniert. Kann die Bewegung sich von den politischen Ausrutschern lösen und den Fokus auf den spirituellen Kern halten? Einige Mitglieder distanzieren sich intern schon von Oles Islam-Tiraden und fokussieren lieber auf Meditation und Gemeinschaft. Vielleicht wird die nächste Generation ruhiger und integrativer agieren.
Trotz aller Kritik gilt: Der Diamantweg hat vielen jungen Europäern erstmals Zugang zum Buddhismus verschafft – in lockerer Atmosphäre, ohne Kulturbarriere. Er hat gezeigt, dass Vajrayana nicht nur was für Kloster oder Ethnien ist, sondern ins westliche Alltagsleben passen kann (wenn auch mit Abstrichen). Dieser Verdienst wird selbst von vielen anerkannt, die Ole Nydahls Person skeptisch gegenüberstehen.