Nichiren-Buddhismus (Soka Gakkai)
Herkunft & Hintergrund: Der Nichiren-Buddhismus geht auf den japanischen Mönch Nichiren Daishonin (1222–1282) zurück. In einer Zeit, als in Japan Amidismus und Zen populär wurden, vertrat Nichiren die These, dass einzig das Lotos-Sutra die höchste und wahre Lehre Buddhas sei. Er predigte die Hingabe an das Sutra in Form der Rezitation „Namu Myōhō Renge Kyō“ (übersetzt: „Ich widme mich dem wunderbaren Dharma vom Lotosblumen-Sutra“). Nichiren sammelte Anhänger, schrieb viele Briefe und Abhandlungen, wurde aber auch verfolgt und mehrfach verbannt aufgrund seiner teils scharfen Kritik an anderen Schulen.
Nichirens Schüler begründeten verschiedene Linien, darunter die Nichiren-Shōshū, ein priesterlicher Zweig mit Haupttempel Taisekiji. Aus der Nichiren-Shōshū wiederum entstand im 20. Jahrhundert eine Laienbewegung namens Sōka Gakkai („Werteschaffende Gesellschaft“). Gegründet wurde sie formal 1930 von Tsunesaburō Makiguchi und Jōsei Toda – zwei reformorientierten Pädagogen. Makiguchi starb 1944 in Haft (die militaristische Regierung sah seine Lehre als subversiv an), Toda baute Soka Gakkai nach dem Krieg neu auf. Ab 1960 übernahm Daisaku Ikeda die Präsidentschaft und führte eine massive Expansion durch, auch international (). In den 1970er/80ern wuchs Soka Gakkai zu Millionen Mitgliedern in Japan und tausenden im Ausland. 1991 kam es zum Bruch mit der Nichiren-Shōshū-Priesterschaft – Soka Gakkai wurde exkommuniziert und steht seither eigenständig als SGI (Soka Gakkai International) da (Dargestellt am Beispiel der Soka Gakkai – Artikel – EZW).
In Deutschland gab es erste Nichiren-Anhänger wohl ab den späten 1950ern (eine Nichiren-Shōshū-Gruppe wurde 1956 in Düsseldorf gegründet) (). Ab den 1960ern waren japanische Geschäftsleute und Studenten Träger der Bewegung (). In den 1980ern traten verstärkt Deutsche bei (). 1990 wurde Soka Gakkai Deutschland (SGI-D) als Verein gegründet, 2013 erhielt sie in Berlin und 2015 bundesweit den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Soka Gakkai-einzige anerkannte buddhistische … – Deutschlandfunk) – damit ist SGI-D die einzige buddhistische Organisation in DE mit diesem Status (vergleichbar einer Kirche).
Lehre & Praxis: Zentral im Nichiren-Buddhismus ist das Daimoku-Chanten – das wiederholte Rezitieren von Nam Myōhō Renge Kyō. Mitglieder tun dies täglich vor einem Hausaltar, in dem der Gohonzon hängt – eine Schriftrolle mit chinesischen Schriftzeichen, die Nichiren entworfen hat und die die Essenz des Lotos-Sutras symbolisiert. Morgens und abends wird in der Regel eine sogenannte Gongyō-Zeremonie durchgeführt: dabei chanten die Mitglieder Teile des 2. und 16. Kapitels des Lotos-Sutra in sino-japanischer Sprache, gefolgt von einer frei gesprochenen Widmung und dem Daimoku (oft viele dutzend Male).
Die Philosophie dahinter: Durch das Chanten offenbart man die eigene Buddha-Natur und verwirklicht Kosen-rufu – die Verbreitung des wahren Dharma zum Wohle aller. Es wird gelehrt, dass das Chanten von Nam-Myoho-Renge-Kyo jedes Problem lösen und Glück bringen kann, da es die höchste Realität anruft. Diese diesseitsbezogene Verheißung – etwa Schutz vor Krankheit, Erfolg im Beruf etc. durch andächtiges Chanten – war ein Erfolgsfaktor in Japan (Zermalmen und unterwerfen – DER SPIEGEL). Soka Gakkai vertritt die Auffassung, dass Buddha ist das Leben und jeder Mensch innewohnend ein Buddha ist, den es zu erwecken gilt. Anders als traditionelle Schulen glaubt SGI nicht an einen fernen Paradieszustand oder klösterliche Heiligkeit, sondern an die Verwandlung des Alltagslebens hier und jetzt.
Organisatorisch setzt SGI auf Laienaktivitäten in der Gemeinschaft. Es gibt ein straff organisiertes Zellen-System (traditionell 15 Familien = 1 Gruppe, 6 Gruppen = 1 Distrikt etc., wobei diese Zahlen variieren) (Zermalmen und unterwerfen – DER SPIEGEL). In Deutschland sind die Strukturen etwas offener, aber es gibt immer noch Einteilungen in Landes-, Gebietsgliederungen und lokale Chant-Gruppen. Regelmäßig finden Treffen statt – von kleinen Hauskreis-Treffen bis zu großen Versammlungen und Jahresfeiern. Bei diesen Treffen werden Erfahrungsberichte (wie hat mir die Praxis geholfen?) geteilt, Passagen aus Ikedas Schriften gelesen und natürlich gemeinsam Daimoku gechantet.
Es gibt keine Mönche oder Nonnen in SGI. Alle sind Laien. Die spirituelle Führung erfolgt durch gewählte oder ernannte ehrenamtliche Funktionäre, im Hintergrund aber vor allem durch die Inspiration Daisaku Ikedas, der bis heute Ehrenpräsident ist und durch Schriften (Bücher, Briefe, monatliche Leitartikel) die Richtung angibt. Ikeda wird von Anhängern oft verehrt wie ein großer Lehrer – man spricht von „Sensei“ (jap. Lehrer) und viele Mitglieder haben Fotos von ihm zuhause.
Spiritualität und Heilsversprechen: Der Nichiren/SGI-Buddhismus kann als stark diesseits-orientiert charakterisiert werden. Er betont, dass Erleuchtung im Alltag möglich ist und sich in materiellem und sozialem Glück zeigen kann. Kritiker haben das als „Wunscherfüllungs-Buddhismus“ belächelt, da oft versprochen wird, dass Chanten zu konkreten Ergebnissen führt – Soka Gakkai verhieß ihren Anhängern Schutz vor Krankheiten oder Erfolg in Liebe und Beruf (Zermalmen und unterwerfen – DER SPIEGEL). Andererseits erleben viele Praktizierende tatsächlich eine positive innere Wandlung: mehr Selbstvertrauen, Zuversicht und Gemeinschaftsgefühl. Spirituell gesehen verzichtet SGI auf komplexe Meditation oder metaphysische Spekulation. Es gibt kein strenges Klosterleben, kein Abstreben ins Nirvana, sondern die Idee, dass das Saha-Land (dieses Weltleid) ins Reine Land transformiert wird, wenn alle Nam-Myoho-Renge-Kyo praktizieren.
Mystische Komponenten sind begrenzt auf den Glauben an die mystische Kraft des Lotos-Sutra und den Gohonzon. Der Gohonzon gilt als „Spiegel“ der eigenen Buddha-Natur – indem man ihn andächtig betrachtet, spiegelt er das eigene innere Potenzial. Manche Nichiren-Anhänger berichten von tiefen meditativen Versenkungen beim Chanten, aber im Vergleich z.B. zum tibetischen Vajrayana ist das Mystik-Level geringer. Kein Pantheon von vielen Buddhas – Nichiren-Buddhisten richten sich an Shakyamuni Buddha (der im Lotos-Sutra als ewig lebend dargestellt wird) und an Nichiren als seinen Nachfolger.
Nichiren/SGI in Deutschland heute: SGI-Deutschland hat offiziell rund 8.300 Mitglieder (Stand ca. 2023, laut eigenen Angaben) und Zentren in vielen Großstädten. Es gibt einen nationalen Kultursaal in München und Berlin, Regionalschulen etc. Das Wachstum war besonders in den 1980er und 90er Jahren stark, aktuell ist es stabil bis leicht steigend. SGI-D ist – trotz mancher Außenkritik – in der deutschen Gesellschaft recht gut integriert: Sie engagiert sich in interreligiösen Dialogen, Friedensinitiativen (Ikeda verfasst jährlich Friedensvorschläge an die UN) und fördert kulturelle Programme. Zudem gibt es eine Jugendabteilung, die junge Buddhisten anspricht.
Kontroversen und Kritik: Soka Gakkai wird international oft kritisch beäugt. In Japan gilt sie manchen als politisch einflussreiche Organisation, da sie die Komeito-Partei unterstützt. Früher wurde Soka Gakkai in Japan als „militant“ gescholten – das berüchtigte Shakubuku, aggressives Bekehren, hat in den 1950er Jahren tatsächlich zu Fällen geführt, wo Mitglieder z.B. in Häuser eindrangen und andere Hausaltäre zerstörten (Zermalmen und unterwerfen – DER SPIEGEL). Solche Extreme sind längst vorbei, aber der Ruf hing der Organisation an.
In Deutschland ist SGI-D wesentlich zurückhaltender. 2005 erschien im Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg eine kurze Erwähnung von SGI im Kontext von Jugendreligionen, was SGI-D sehr verärgerte – mittlerweile wird SGI öffentlich kaum noch als „Sekte“ bezeichnet, vor allem nach der staatlichen Anerkennung. Allerdings gab es vereinzelt Aussteigerberichte, die von psychischem Druck und übertriebenem Personenkult berichten. Ein ehemaliges Mitglied schrieb im Internet: „SGI hat alle Kriterien einer Sekte erfüllt… paramilitärische Organisation, strenge Disziplin… alles Entscheidungen trifft allein der Führer Ikeda“ – hier wird auf die hierarchische Struktur verwiesen (Zermalmen und unterwerfen – DER SPIEGEL) (Zermalmen und unterwerfen – DER SPIEGEL).
Objektiv lässt sich sagen: SGI hat durchaus hierarchische Züge – die Organisation ist top-down geführt, einfache Mitglieder sollen vor allem üben und rekrutieren („Glückschreiben“ und Missionieren sind Aufgaben jedes Mitglieds). Der innerorganisatorische Umgangston ist aber meist freundlich und die Mitglieder helfen einander wie in einer Selbsthilfegruppe. Es gibt also geteilte Ansichten: Die einen loben SGI als kraftvolle Laienbewegung, die anderen sehen sie kritisch als autoritären Kult.
Positiv hervorzuheben: In SGI gibt es keine bekannten Missbrauchsskandale sexueller Art – vielleicht auch, weil es kein Zölibat und keine abschotteten Klöster gibt. Problematisch waren eher Machtfragen: 1979 trat Präsident Ikeda in Japan kurzzeitig zurück aufgrund von internen Querelen mit Priestern; 1991 die Trennung von Nichiren Shoshu (beide Seiten warfen sich Fehlverhalten vor). In Deutschland gab es keine vergleichbaren Konflikte mit der Gesellschaft.
Die Herausforderung für Nichiren-Buddhismus in DE ist, seine Missionseifer und sein starkes Wir-Gefühl mit der offenen pluralistischen Gesellschaft in Einklang zu halten. In der Deutschen Buddhistischen Union war SGI lange nicht Mitglied (man nahm kaum Anteil am restlichen Buddhismus). Das hat sich gebessert – Vertreter von SGI kooperieren mittlerweile in manchen Gremien mit anderen. Dennoch bleibt SGI eine Welt für sich: Ihre Mitglieder sind oft voll und ganz in dieser Gemeinschaft aufgehoben und sehen sie als einzigen wahren Pfad (Nichiren lehrte schließlich, andere Schulen seien minderwertig oder falsch (Zermalmen und unterwerfen – DER SPIEGEL)). Damit eckt SGI im interbuddhistischen Dialog manchmal an, wo ansonsten mehr Ökumene üblich ist.
Abschließend: Der Nichiren-Buddhismus, insbesondere in Gestalt der Soka Gakkai, bietet vielen Menschen in DE einen pragmatischen, gemeinschaftsorientierten spirituellen Weg, der leicht zugänglich ist und unmittelbar im Leben ansetzen will. Die Betonung auf Lebensfreude, Friedensarbeit und individuelle Ermächtigung (jeder kann Buddha-Zustand erlangen) wirkt attraktiv. Gleichzeitig bleibt die SGI eine Bewegung mit starker interner Geschlossenheit und Leitungsstruktur, was man wissen sollte, wenn man sich darauf einlässt.