Reines-Land-Buddhismus (Jōdo-Shinshū)
Herkunft & Hintergrund: Der Reines-Land-Buddhismus ist in Ostasien eine der meistverbreiteten Formen des Buddhismus, insbesondere in China und Japan. Seine Wurzel liegt in Indien in den sogenannten Sukhāvatī-Sutras, die von einem Buddha namens Amitābha (Amida) erzählen, der ein reines Paradiesland erschaffen hat, in dem alle Bedingungen für die Erleuchtung optimal sind. In China (ab 4. Jh.) entstand daraus die Jìngtǔ Zōng (Reines-Land-Schule), deren Mönche wie Huisi und später Shandao die Praxis des Nianfo (Amitabha-Anrufung) propagierten.
Nach Japan kam diese Richtung im 12. Jahrhundert. Der Mönch Hōnen (Genkū, 1133–1212) gründete die Jōdo-shū (Reines-Land-Schule) und lehrte exklusiv das Nembutsu: die Rezitation von Namu Amida Butsu („Ich nehme Zuflucht zu Amida Buddha“). Honens radikal einfaches Konzept fand großen Anklang unter einfachen Leuten, stieß aber auch auf Widerstand etablierter Klöster.
Shinran (1173–1262), ein Schüler Honens, ging noch weiter: Er gründete die Jōdo-Shinshū („Wahre Reines-Land-Schule“) (Deutsche Buddhistische Union e.V. – Buddhistische Religionsgemeinschaft). Shinran betonte, dass der Mensch im degenerierten Zeitalter (Mappō) aus eigener Kraft kaum Erlösung erreichen könne – einzig durch das vertrauensvolle Anrufen Amidas und dessen andere Kraft könne man nach dem Tod im Reinen Land geboren werden und dort die Buddhaschaft erlangen. Shinran brach mit der Klosterdisziplin (er heiratete – was revolutionär war) und sah sich selbst als „unmöglichen“ Sünder, der allein auf Amidas Gnade vertraut.
Jōdo-Shinshū wurde in Japan zur größten buddhistischen Konfession. Sie spaltete sich in Untergruppen, wovon die Hongwanji-Zweige (Nishi Hongwanji und Higashi Hongwanji) die größten sind. Jōdo-Shinshū ist bis heute die Religion von Millionen Japanern, sehr gemeindebasiert (vergleichbar christlichen Gemeinden mit Priestern, Sonntagstreffen etc.).
Außerhalb Japans verbreitete sie sich mit japanischen Auswanderern ab dem späten 19. Jh. in Hawaii, Nord- und Südamerika. In Europa fasste Shin-Buddhismus erst spät Fuß: 1954 entstand in London eine Shin-Gruppe, 1956 eine in Düsseldorf, Deutschland (). Diese wurden oft von japanischen in Europa lebenden Shin-Priestern betreut.
Lehre & Praxis: Die Lehre stützt sich auf die Drei Reines-Land-Sutras (das längere und kürzere Sukhavati-Vyuha-Sutra und das Amitayurdhyana-Sutra) sowie auf Shinrans Hauptwerk Kyōgyōshinshō. Zentrale Begriffe sind tariki (die „andere Kraft“ Amidas, im Gegensatz zu jiriki, der eigenen Kraft) und shinjin (tiefes, aufrichtiges Vertrauen in Amidas Gelübde). Sobald ein Gläubiger echtes shinjin entwickelt, ist sein Eintritt ins Reine Land garantiert – das Rezitieren des Nembutsu wird dann zum Ausdruck von Dank, nicht Mittel zum Zweck.
Die Praxis in Shin-Gemeinden ähnelt eher einem Andachtsgottesdienst als einer Meditation. Eine typische Jōdo-Shinshū-Zeremonie (Oservice) enthält:
- Rezitation von Ausschnitten aus den Sutras (oft das Juseige oder Sanbutsuge, Lobpreisverse aus dem sutra),
- Gemeinsames Singen buddhistischer Lieder oder Versen,
- Die Nembutsu-Anrufung (mehrfach „Namu Amida Butsu“ im Chor sprechen oder singen),
- Eine Dharma-Ansprache des Geistlichen oder einer Vertrauensperson,
- Opferungen von Räucherwerk vor dem Amida-Schrein.
Die meisten Shin-Anhänger beten auch zu Hause vor einem kleinen Schrein (Obutsudan) täglich und sprechen dort das Nembutsu und kurze Gebete (Worte Shinrans oder die Shōshinge-Litanei).
Eine Besonderheit von Jōdo-Shinshū: Es gibt keine klösterliche Meditationstradition, keine Mönche im strengen Sinn. Priester (Oshō) sind meist verheiratet und arbeiten oft auch in zivilen Berufen. Sie erhalten eine theologische Ausbildung an der Shinshu-Universität oder in Seminaren, um Zeremonien (Hochzeiten, Beerdigungen etc.) durchführen zu können. Die Ethik im Shin-Buddhismus ist im Kern die gleiche buddhistische Ethik, aber Shinran lehrte, dass man als gewöhnlicher Mensch auch Fehler haben wird und genau deswegen auf Amida vertrauen muss – also weniger moralischer Perfektionismus, mehr demütiges Vertrauen.
Spiritualität: Jōdo-Shinshū wird manchmal als „am wenigsten buddhistisch“ verkannt, weil es keine Meditation betont und sehr glaubensbasiert wirkt, fast wie eine monotheistische Religion (Amida als „Erlöser“). Tatsächlich ist Shin-Spiritualität eine Mystik der Hingabe. Es geht darum, die eigene Erleuchtungsunfähigkeit zutiefst zu spüren und sich dadurch vollkommen dem Licht Amidas zu öffnen. In dem Moment, wo man die Grenzen des Ego anerkennt, „gießt Amidas Kraft sich ein“ – so die Vorstellung. Viele Shin-Gläubige berichten von einer Art innerem Frieden und Geborgenheit, wenn sie Nembutsu praktizieren. Anstatt individueller Erleuchtungs-Erlebnisse (wie im Zen oder Tantra) erlebt man eher eine Gemeinschaftserfahrung mit Amida: das Gefühl, angenommen und geführt zu sein.
Mystische Visionen sind selten, aber es gibt Überlieferungen, dass tiefe Shin-Praktizierende Visionen des Lotos-Throns oder Musik aus Sukhavati gehört haben. Solches wird jedoch nicht angestrebt; Shinran selbst war skeptisch gegenüber Wundern und betonte eher das Alltägliche – er empfahl z.B., ehrliche Arbeit zu tun, Familie zu haben und Amida im Herzen zu tragen.
Reines Land in Deutschland heute: Die Buddhistische Gemeinschaft Jōdo Shinshū Deutschland e.V. ist die Hauptorganisation. Sie ist mit der Nishi Hongwanji in Kyōto verbunden. In Düsseldorf gibt es einen kleinen Tempel (Gompa) in einem Wohnhaus, wo ein in Deutschland ansässiger japanischer Reverend (Rev. Nishiyama) die Gemeinde betreut. Daneben bestehen Gruppen in z.B. Berlin und Heidelberg, wo sich Interessierte treffen. Die Mitgliederzahl ist sehr gering – vielleicht 50–100 Aktive bundesweit. Oft sind es Japaner oder Halbjapaner und einige deutsche Konvertiten mit starkem Interesse an Shinran.
Die Praxis in DE gestaltet sich durch monatliche Treffen mit gemeinsamen Chantings (auch mal zweisprachig), Lesungen aus Shinran oder Buddhismus-Einführung für Neulinge. Es werden Gastlehrer aus Japan oder USA eingeladen, um Vorträge zu geben. Viel geschieht auch virtuell (via Email/Newsletter) aufgrund der verstreuten Mitgliedschaft.
Herausforderungen: Jōdo-Shinshū ist im Westen relativ unbekannt und kämpft mit dem Image, „nur Glauben, keine Meditation“ zu sein. Für viele westliche Buddhisten, die eher an Meditation und Selbsterfahrung interessiert sind, wirkt Shin-Buddhismus wenig attraktiv. Daher zieht er meist die Leute an, die entweder ethnisch verbunden sind oder eine Affinität zu dieser Art Vertrauensspiritualität haben. Es gab in der Vergangenheit Spannungen zwischen der japanischen Kirche und westlichen Laien, die mehr Unabhängigkeit wollten – so spaltete sich z.B. die IBS (International Buddhist Society) ab, die Nichiren-ähnlich alleine operieren wollte, aber in DE ist das kein großes Thema mangels Masse.
Positives und kein Skandal: Shin-Gemeinden sind sehr familienorientiert, bodenständig und sozial eingebunden. Sie betreiben in Japan viele Schulen und soziale Einrichtungen. In DE so etwas im kleinen Rahmen: Man feiert zusammen O-Bon (Ahnenfest) oder Bodhi-Tag, geht danach essen – es ist fast mehr ein soziales Netzwerk mit spirituellem Kern. Bisher sind keine Skandale bekannt, was wohl auch daran liegt, dass hier keine charismatischen Gurufiguren agieren, sondern die Priester eher wie Pfarrer handeln, die sich an ein Ehrencodex halten. Die größte Herausforderung ist eher die Nachwuchsfrage – wenige junge Menschen schließen sich an.
Insgesamt bietet der Reines-Land-Weg eine buddhistische Frömmigkeit, die durchaus faszinierend sein kann: die Vorstellung einer universalen Buddhaliebe (Amida) und des Vertrauens, das allem zugrunde liegt. In der multireligiösen Landschaft Deutschlands ist er jedoch ein Nischenphänomen geblieben, meist im Schatten der bekannteren Zen- oder Tibet-Schulen.