Prinzipien und praktische Anwendung
Definition und Ursprung von Ahimsa
Begriff und Bedeutung: Ahimsa (Sanskrit: ahiṃsā) bedeutet wörtlich „Nicht-Verletzen“ oder Gewaltlosigkeit. Es bezeichnet das ethische Prinzip, keinem Lebewesen durch Handlungen, Worte oder Gedanken Schaden zuzufügen. Diese Idee entstammt der altindischen Spiritualität und wurde in verschiedenen religiösen Traditionen Südasiens entwickelt – insbesondere im Jainismus, Hinduismus und Buddhismus – wobei der genaue Ursprung bis in vor-aryische Zeit zurückreichen könnte. Philosophisch gründet Ahimsa auf der Vorstellung, dass Gewalt gegen andere Wesen negative karmische Konsequenzen für einen selbst nach sich zieht (Ahimsa – New World Encyclopedia).
Historischer Hintergrund: In den vedischen Zeiten des alten Indien waren Tieropfer üblich, und das Ahimsa-Prinzip spielte zunächst eine untergeordnete Rolle. Frühtexte wie die Taittiriya-Samhita erwähnen ahiṃsā anfänglich nur im Sinne von „nicht verletzen“ (ohne moralische Wertung). Erst in Upanishaden und späteren Schriften erhielt Ahimsa eine ausgeprägte ethische Dimension: So verbietet die Chandogya-Upanishad (ca. 8.–7. Jh. v. Chr.) Gewalt gegen „alle Geschöpfe“ und zählt Ahimsa zu den fünf zentralen Tugenden. In der Zeit von Buddha (6. Jh. v. Chr.) und Mahavira (Jainismus) wurde Ahimsa dann zu einem Kernprinzip der śramaṇa-Bewegungen, die sich von den opferzentrierten vedischen Praktiken abwandten. Besonders der Jainismus betonte von Anfang an radikale Gewaltlosigkeit als höchsten Grundsatz (ahiṃsā paramo dharmaḥ – „Nicht-Gewalt ist die höchste Pflicht“) (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia). Buddha übernahm das Prinzip der Gewaltlosigkeit ebenfalls in sein Lehrgebäude, wenn auch der Begriff ahimsa im Pali-Kanon nicht als formaler Terminus verwendet wird. Stattdessen lehrte er das Mitgefühl und das Unterlassen des Töten als fundamentalen Bestandteil der Sittlichkeit (Śīla). So ist Ahimsa eines der ersten Dinge, die ein Schüler lernt, sei es im Yoga oder auf dem buddhistischen Pfad (Ahimsa | Nonviolence, Pacifism, Compassion | Britannica). Der buddhistische Kaiser Ashoka (3. Jh. v. Chr.) hob in seinen Edikten die Heiligkeit des Lebens hervor und propagierte Ahimsa als Teil seines Dhamma-Konzepts (Ahimsa | Nonviolence, Pacifism, Compassion | Britannica), was zeigt, dass Gewaltlosigkeit schon früh als gesellschaftliches Ideal verankert wurde.
Ahimsa in buddhistischen Schriften und Traditionen
Buddhas Lehren zur Gewaltlosigkeit: In der buddhistischen Ethik ist Ahimsa implizit allgegenwärtig. Es spiegelt sich besonders im ersten der Fünf Sittlichen Gebote (Pañca-Śīla) wider: dem Gelübde, kein lebendes Wesen zu töten oder zu verletzen. Der Dhammapada, eine Sammlung von Spruchversen des Buddha, formuliert eindringlich die goldene Regel der Gewaltlosigkeit: „Alle fürchten Gewalt, alle fürchten den Tod. Indem man sich in den anderen versetzt, sollte man weder töten noch töten lassen“. Dieser Vers (Dh. 129) unterstreicht Empathie und die universelle Geltung von Mitgefühl für alle fühlenden Wesen. Ein weiterer bekannter Vers besagt: „Hass hört durch Hass niemals auf; durch Liebe allein kommt er zum Erlöschen. Das ist ein ewiges Gesetz“ (Buddhism and Ethics). Diese Worte aus dem Dhammapada (Vers 5) betonen, dass Gewalt nur durch Gegengewalt endlosen Groll erzeugt, während allein Nicht-Gewalt und Liebe Feindseligkeit wirklich überwinden können – ein Gedanke, der den Kern von Ahimsa im Buddhismus ausdrückt.
Buddhistische Schriften und Kommentare: Auch wenn der Begriff ahimsa im Pali-Kanon selten direkt genannt wird, ist das Prinzip in zahlreichen Sutren und Kommentaren verankert. So heißt es in der Dhammika Sutta (Snp 2.14), ein Laienanhänger solle „kein Lebewesen töten noch anderen beim Töten helfen“ – dies schließt alle Kreaturen ein, vom Menschen bis zum kleinsten Insekt. Im Vinaya (Mönchsregeln) wird das vorsätzliche Töten eines Menschen als schwerstes Vergehen (Pārājika) geahndet, das zum Ausschluss aus dem Orden führt. Auch das Töten von Tieren ist einem Mönch ausdrücklich untersagt, und schon die Absicht, einem Wesen zu schaden, gilt als Regelverstoß. Buddhistische Kommentare erklären, dass avihiṁsā (Nicht-Verletzen) mit Güte und Mitgefühl gleichzusetzen ist. Der Gelehrte Buddhaghosa führt in der Visuddhimagga aus, dass der Bodhisattva aus großem Mitgefühl sogar bereit ist, eigenes Leid auf sich zu nehmen, statt andere zu verletzen – was das Ideal der selbstlosen Gewaltlosigkeit illustriert.
Traditionen und Praxisbeispiele: In allen Schulen des Buddhismus – Theravāda, Mahāyāna, Vajrayāna – gilt das Prinzip des Nicht-Tötens als unverzichtbar. Im Theravāda wird Ahimsa hauptsächlich durch die Einhaltung der Fünf Gebote praktiziert. Im Mahāyāna-Buddhismus wird die Ethik der Gewaltlosigkeit noch weiter gefasst: Bodhisattva-Gelübde gebieten, allen Wesen Nutzen zu bringen und Leid wo möglich zu verhindern. Viele Mahāyāna-Sutras verurteilen daher auch den Fleischverzehr, da er indirekt mit dem Töten von Tieren verbunden ist. So heißt es sinngemäß im Lankavatara-Sutra und anderen Texten, dass Bodhisattvas kein Fleisch essen sollen, „weil es aus dem Leid der lebenden Wesen gewonnen wird“. Daher entwickelten insbesondere ostasiatische Schulen (Chan/Zen, Reines Land) eine starke vegetarische Tradition als Ausdruck von Ahimsa. Im Theravāda ist Vegetarismus zwar keine Pflicht, doch manche Mönche und Laien geloben ihn freiwillig aus Mitgefühl. Immer gilt: Kein Tier darf eigens getötet werden, um als Nahrung zu dienen (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia).
Historische Vorbilder: Bereits Buddha Shakyamuni selbst soll laut Überlieferung das Leben vieler Tiere geschont haben, etwa indem er einen geplanten Opferaltar zum Einsturz brachte oder einen Büffel vor dem Schlachten rettete. Der perhaps einflussreichste historische Ahimsa-Aktivist in der buddhistischen Geschichte war Kaiser Ashoka. Nach seinem Bekenntnis zum Buddhismus bereute er das Blutvergießen früherer Kriege und verordnete im Reich weitgehende Maßnahmen zum Schutz von Menschen und Tieren. In seinen Felsenedikten verkündete er die Einstellung der königlichen Jagd und schränkte den Tierverbrauch drastisch ein: Früher wurden „viele hunderttausende Tiere täglich für Curry geschlachtet“, doch Ashoka reduzierte es auf nur noch wenige und erklärte: „Selbst diese drei Tiere sollen in Zukunft nicht getötet werden“. Zudem erklärte er zahlreiche Tierarten für inviolabel (unverletzlich) und verbot grausame Praktiken wie das Verbrennen von lebenden Waldbewohnern oder Tierkämpfe zu Unterhaltungszwecken. Ashoka stellt damit ein frühes Beispiel dar, wie buddhistische Ahimsa-Lehren in konkrete Politik und Gesellschaftsgestaltung einflossen.