Im Moment präsent sein
Mit Rechter Anstrengung haben wir die Energie und das Engagement für den spirituellen Weg kultiviert. Nun wenden wir uns dem Herzstück der buddhistischen Praxis zu: Rechter Achtsamkeit (Sammā Sati) – dem klaren, offenen und nicht wertenden Gewahrsein für das, was in jedem Augenblick tatsächlich geschieht. Sie ist das Werkzeug, das uns erlaubt, aus dem Autopiloten aufzuwachen und wirklich präsent zu sein.
Anna und die allgegenwärtige Zerstreutheit des modernen Lebens
Anna kennt diese Momente der Abwesenheit nur zu gut:
Sie sitzt am Schreibtisch, isst hastig ihr Mittagessen, während sie gleichzeitig E-Mails checkt, an das Meeting am Nachmittag denkt und nebenbei eine Nachricht beantwortet. Als der Teller leer ist, kann sie sich kaum erinnern, was sie gegessen hat. Hat es überhaupt geschmeckt?
Ihre Freundin erzählt ihr etwas Wichtiges beim Kaffee, aber Annas Gedanken schweifen ständig zu ihrer To-do-Liste ab: „Ich muss noch einkaufen… War die Waschmaschine fertig?… Oh, ich sollte wirklich zuhören.“ Sie nickt mechanisch, aber nimmt kaum etwas wahr.
Am Wochenende macht sie einen Spaziergang im Park, um „abzuschalten“. Aber ihre Gedanken kreisen um Sorgen, Pläne und vergangene Gespräche. Nach zwanzig Minuten realisiert sie: Sie hat die Natur um sich herum überhaupt nicht wahrgenommen. Welche Bäume? Welche Vögel? Sie war körperlich da, aber geistig völlig abwesend.
Diese alltäglichen Momente des „Autopiloten“ – des unbewussten, mechanischen Funktionierens – sind das Gegenteil von Achtsamkeit. Rechte Achtsamkeit lädt uns ein, immer wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren und unser Leben tatsächlich zu leben, statt nur durch es hindurchzugehen.
Die Vier Grundlagen der Achtsamkeit – Das systematische Training
Traditionell wird Rechte Achtsamkeit durch die bewusste Betrachtung von vier Bereichen (Satipaṭṭhāna) geübt und vertieft:
1. Achtsamkeit auf den Körper (Kāyānupassanā)
Dies beinhaltet das direkte, unmittelbare Wahrnehmen körperlicher Empfindungen: den Atem in seiner natürlichen Bewegung, die Körperhaltung (Sitzen, Stehen, Liegen, Gehen), jede Bewegung, aber auch subtilere Empfindungen wie Wärme, Kälte, Anspannung oder Entspannung. Es geht darum, den Körper als lebendige, sich verändernde Erfahrung direkt wahrzunehmen, ohne ihn zu bewerten oder zu kommentieren.
Anna könnte üben, beim Teetrinken die Wärme der Tasse in ihren Händen ganz bewusst zu spüren, den Duft des Tees wahrzunehmen und das sanfte Gewicht der Tasse zu fühlen. Oder beim Gehen die Berührung der Füße mit dem Boden zu spüren.
2. Achtsamkeit auf die Gefühle/Empfindungen (Vedanānupassanā)
Hierbei richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Qualität der Empfindungen, die ständig in uns auftauchen: angenehm, unangenehm oder neutral. Es geht nicht um die komplexen Emotionen (Ärger, Freude, Angst), sondern um die grundlegende Tönung jeder Erfahrung. Wichtig ist, sie als das zu erkennen, was sie sind – vorübergehende, sich verändernde energetische Zustände, nicht „meine“ Gefühle, die definieren, wer ich bin.
Wenn Anna Ärger verspürt, versucht sie, die zugrundeliegende Empfindung als „unangenehm“ zu registrieren und mit Neugier zu beobachten: Wie fühlt sich das im Körper an? Wie verändert es sich? Wie kommt es und wie geht es wieder?
3. Achtsamkeit auf den Geist (Cittānupassanā)
Dies bedeutet, den allgemeinen Zustand und die Qualität des Geistes selbst zu beobachten: Ist er gerade gierig, ärgerlich, verträumt, unruhig, konzentriert, friedlich oder verwirrt? Es geht darum, diese Zustände klar zu erkennen und zu benennen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren („Ich bin wütend“ wird zu „Wut ist da“) und ohne sie zu bewerten („Das ist schlecht, ich sollte nicht wütend sein“).
Anna bemerkt, dass ihr Geist während der Meditation abschweift und in Tagträumen verloren geht. Statt sich zu ärgern, erkennt sie einfach: „Aha, Abschweifen ist da. Verträumtheit ist da.“ Dann lenkt sie ihre Aufmerksamkeit freundlich zurück zum Atem.
4. Achtsamkeit auf die Geistesobjekte/Phänomene (Dhammānupassanā)
Dies ist die umfassendste und anspruchsvollste Grundlage. Sie beinhaltet die Achtsamkeit auf die spezifischen Inhalte und Muster des Geistes im Licht der buddhistischen Lehre: die Fünf Hindernisse (Begierde, Übelwollen, Trägheit, Unruhe, Zweifel), die Sinnesgrundlagen, die Vier Edlen Wahrheiten oder die Drei Daseinsmerkmale. Es geht darum, die Natur der Wirklichkeit direkt in der eigenen unmittelbaren Erfahrung zu untersuchen und zu verstehen.
Wenn Anna bemerkt, dass sie grübelt und sich Sorgen macht, erkennt sie dies nicht nur als „Denken“, sondern identifiziert es als das spezifische Hindernis der „Unruhe und Sorge“ (Uddhacca-Kukkucca). Dieses Erkennen hilft ihr, geschickter damit umzugehen.
Kritische Nachfragen zu Rechter Achtsamkeit
„Ist Achtsamkeit nicht einfach nur eine Entspannungstechnik?„
Nein. Während tiefe Entspannung oder innere Ruhe eine mögliche Nebenwirkung oder Folge sein kann, ist Achtsamkeit primär etwas anderes: ein klares, waches Gewahrsein dessen, was gerade ist – sei es angenehm, unangenehm oder neutral. Es geht darum, alle Erfahrungen – Gedanken, Gefühle, Empfindungen – mit Offenheit und Akzeptanz wahrzunehmen, ohne von ihnen mitgerissen zu werden und ohne sie krampfhaft verändern zu wollen. Achtsamkeit ist keine Flucht vor dem Leben, sondern eine tiefere Begegnung damit.
„Ich versuche achtsam zu sein, aber meine Gedanken rasen trotzdem ununterbrochen. Mache ich etwas falsch?„
Das ist absolut normal und ein sehr häufiges Missverständnis. Achtsamkeit bedeutet nicht, keine Gedanken mehr zu haben oder einen „leeren Geist“ zu erreichen. Sie bedeutet, Gedanken als das zu erkennen, was sie sind: vorübergehende mentale Ereignisse, wie Wolken am Himmel, die kommen und gehen. Das Ziel ist nicht Gedankenstille oder Gedankenfreiheit, sondern ein grundlegend verändertes Verhältnis zu den Gedanken – wir sind nicht mehr ihr Gefangener, sondern ihr freundlicher Beobachter. Jedes Mal, wenn du bemerkst, dass du abgeschweift bist, und zurückkehrst, ist das ein Erfolg, kein Versagen.
„Kann Achtsamkeit nicht auch missbraucht werden, um nur effizienter und leistungsfähiger zu werden?„
Das ist eine sehr berechtigte und wichtige Sorge, die unter dem Begriff „McMindfulness“ diskutiert wird. Rechte Achtsamkeit im authentisch buddhistischen Kontext ist immer untrennbar mit ethischem Verhalten (Sīla) und weiser Einsicht (Paññā) verbunden. Sie dient nicht der reinen Leistungssteigerung, Produktivität oder dem besseren Funktionieren im bestehenden System, sondern dem tieferen Verständnis der eigenen Reaktionsmuster, dem Abbau von Leiden und der Entwicklung von Weisheit und Mitgefühl. Wenn Achtsamkeit von Ethik und Weisheit getrennt wird, kann sie tatsächlich zu einem bloßen Werkzeug werden – das ist nicht das, wovon der Buddha sprach.
Eine kleine Übung zu Rechter Achtsamkeit (fünf bis zehn Minuten)
Diese Übung hilft dir, Achtsamkeit systematisch zu üben und in deinen Alltag zu integrieren.
Schritt 1: Der bewusste Atemraum (2-3 Minuten)
Nimm dir einen ruhigen Moment. Setze oder stelle dich bequem hin. Schließe die Augen oder senke den Blick.
- Erste Minute: Werde dir bewusst, was gerade in dir vorgeht. Welche Gedanken sind da? Welche Gefühle? Welche Körperempfindungen? Benenne sie innerlich freundlich und nimm sie einfach zur Kenntnis, ohne sie zu bewerten oder verändern zu wollen.
- Zweite Minute: Lenke deine Aufmerksamkeit sanft auf deinen Atem. Spüre, wie der Atem von selbst ein- und ausströmt. Nutze den Atem als Anker im gegenwärtigen Moment. Wenn Gedanken kommen, lass sie wie Wolken vorbeiziehen und kehre zum Atem zurück.
- Dritte Minute: Weite deine Aufmerksamkeit langsam wieder auf den ganzen Körper aus. Spüre deinen Körper als Ganzes, mit allen Empfindungen, die gerade da sind.
Schritt 2: Achtsame Alltagsaktivität wählen (während des Tages)
Wähle eine alltägliche Tätigkeit aus, die du heute ganz bewusst ausführen möchtest. Zum Beispiel:
- Achtsames Essen: Eine Mahlzeit ohne Handy, Computer oder Zeitung
- Achtsames Gehen: Vom Auto ins Büro oder im Park
- Achtsames Zuhören: In einem Gespräch vollständig präsent sein
- Achtsames Duschen: Jede Empfindung wahrnehmen
Führe diese Aktivität mit voller Aufmerksamkeit aus. Wenn du merkst, dass deine Gedanken abschweifen, bringe sie freundlich zurück zur direkten Erfahrung.
Schritt 3: Abendreflexion (2-3 Minuten)
Nimm dir am Abend einen Moment Zeit zu reflektieren:
- Wie oft war ich heute wirklich präsent?
- Gab es Momente, in denen ich den Autopiloten bemerkt habe?
- Wie hat sich die achtsame Aktivität angefühlt?
- Was habe ich über meine Gewohnheiten gelernt?
- Welche Absicht möchte ich für morgen setzen?
Diese einfache Reflexion vertieft dein Verständnis und macht Muster sichtbar.
Rechte Achtsamkeit ist weit mehr als eine Technik – sie ist eine Lebensweise. Sie ist der Schlüssel zur Entwicklung von Klarheit, Gelassenheit und echter Freiheit. Sie ermöglicht es uns, bewusster und lebendiger zu sein, anstatt von unseren Gewohnheiten, Impulsen und Konditionierungen geleitet zu werden.
In welchen kleinen Momenten deines Alltags könntest du heute bewusst innehalten und wirklich wahrnehmen, was gerade ist – ohne es sofort zu bewerten, zu kommentieren oder verändern zu wollen?
Serienanschluss: Rechte Achtsamkeit schafft die Grundlage für einen klaren, wachen Geist. Im letzten und achten Schritt des Pfades lernen wir, wie wir diese Klarheit nutzen und vertiefen können, um den Geist zu stabilisieren und in tiefere Zustände der Sammlung zu führen – durch die Praxis der Rechten Sammlung.
