Ahimsa im Vergleich zu ähnlichen Konzepten in anderen Religionen
Das Ideal der Gewaltlosigkeit findet sich in vielen Religionen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausprägungen. Ein Vergleich zeigt Gemeinsamkeiten, aber auch wichtige Unterschiede in der Interpretation von Ahimsa und verwandten Prinzipien.
Jainismus: Nirgendwo ist Ahimsa konsequenter verwirklicht als im Jainismus. Für Jains ist strikte Gewaltlosigkeit die oberste Pflicht jedes Einzelnen (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia). Jain-Mönche und -Nonnen bemühen sich, kein Lebewesen – sei es noch so klein – zu verletzen. Sie tragen manchmal Mundschutz, um nicht versehentlich Insekten einzuatmen, und fegen den Boden vor ihren Schritten, um keine Kleinstlebewesen zu zertreten. Vegetarismus ist im Jainismus obligatorisch, oft sogar Veganismus, da auch das Ausbeuten von Tieren (z.B. Milchwirtschaft) als Gewalt gewertet wird (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia) (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia). Ahimsa durchdringt jeden Aspekt des jainistischen Alltags. Wichtig dabei: Gewalt bemisst sich für Jains primär an der Intention – so erklären antike Jain-Texte, dass versehentlicher Schaden (z.B. auf einen Käfer treten ohne es zu merken) nicht als Verletzung im moralischen Sinne gilt, wohingegen schon der Wille zu verletzen verwerflich ist (Teachings Of Jain Religion: Ahimsa | Prashuk Jain). Dennoch gehen Jains aus Mitgefühl so weit wie möglich jedem Risiko einer Schädigung aus dem Weg. Sie erlauben kaum Ausnahmen: Weder Opferhandlungen noch Kriegsdienst werden religiös gerechtfertigt. Historisch gesehen waren Jains allerdings meist keine politische oder kämpferische Klasse, so dass das Prinzip selten in Frage gestellt wurde. (Jainische Könige im Mittelalter standen mitunter vor der Frage, inwieweit Selbstverteidigung erlaubt sei – dies wurde gelegentlich bejaht, allerdings blieb ein frommer Jain selbst dann streng angehalten, kein Lebewesen ohne Not zu töten (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia).) Insgesamt werfen Jains anderen Religionen oft Inkonsistenz in der Gewaltlosigkeit vor (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia). So kritisierten sie Buddhisten und Hindus in der Antike, weil diese ihrer Ansicht nach nachlässiger mit Ahimsa umgingen (Ahimsa – Tibetan Buddhist Encyclopedia). Jainismus verkörpert also Ahimsa in radikalster Form: vollständiges, aktives Unterlassen jeglicher Schädigung, bis in die Gedanken hinein – ein Ideal, dem der Alltag der meisten anderen Religionen so nicht entspricht.
Hinduismus: Ahimsa hat auch in der hinduistischen Ethik einen hohen Stellenwert, jedoch eingebettet in ein komplexes Gefüge von Pflichten (Dharma). Viele Hindu-Schriften preisen Gewaltlosigkeit als höchste Tugend. In der Mahabharata heißt es: „Ahimsa ist die größte Pflicht. Sie umfasst alle anderen Pflichten“. Ebenso zählt das Yoga-System nach Patanjali Ahimsa als ersten der fünf Yamas (ethischen Enthaltungen): Wer fest in Ahimsa begründet ist, bewirkt Frieden um sich herum. Gleichzeitig kennt die hinduistische Tradition aber Ausnahmen und Abwägungen. Die Pflichten eines Kriegers (Kshatriya) beispielsweise können den Einsatz von Gewalt erforderlich machen, etwa zum Schutz der Schwachen oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Das bekannteste Beispiel ist die Bhagavad Gita: Krishna ermahnt darin Arjuna, im gerechten Krieg zu kämpfen, obwohl Gewalt grundsätzlich unerwünscht ist – hier wird das Töten als Teil von Arjunas Dharma dargestellt, verbunden mit der Lehre, ohne Hass und egoistische Motive zu handeln. Hindu-Rechtstexte (Dharmaśāstras) rechtfertigen Gewalt in Notwehr, Strafverfolgung und Krieg, sofern sie dem Schutz der Gesellschaft dient. Rituale wie Tieropfer waren im historischen Hinduismus ebenfalls verbreitet (wenn auch später von vielen Strömungen abgelehnt). So verbieten einige Schriften zwar das Töten von Tieren außer im Rahmen ritueller Opfer – was impliziert, dass religiöses Opfer als Sonderfall galt. Über die Jahrhunderte gewann aber eine gewaltfreiere Haltung an Einfluss: Zahlreiche Heilige (z.B. Basava, Chaitanya) predigten Barmherzigkeit mit allen Geschöpfen, und in der Bhakti-Dichtung wird oft Mitleid mit Tieren betont. Heute identifizieren sich viele Hindu-Gruppen stark mit dem Prinzip Ahimsa, insbesondere Anhänger Gandhis. Dennoch bleibt Hinduismus in der Praxis breiter gefächert: Einige Hindus sind strikte Vegetarier und lehnen selbst das Töten in Notwehr strikt ab, während andere Hindus (etwa in bestimmten Shakta-Traditionen oder Stammesritualen) Tieropfer oder Kriegsdienst noch als Teil der Tradition sehen. Zusammenfassend kann man sagen: Im Hinduismus ist Ahimsa ein hohes Ideal und als persönliches Gelübde vielerorts gelebt, jedoch existieren – im Unterschied zum Jainismus – doktrinäre Rechtfertigungen für bestimmte Gewalthandlungen unter spezifischen Umständen (Pflichterfüllung, Notwehr, etc.). Diese „bedingte Gewaltlosigkeit“ war Gegenstand intensiver Diskussionen innerhalb der hinduistischen Philosophie.
Buddhismus: Obwohl der Buddhismus dem Jainismus in der Betonung der Gewaltlosigkeit nahe steht, setzt er andere Akzente. Wie oben beschrieben, meidet auch ein Buddhist das Töten konsequent und fördert Mitgefühl gegenüber allen Wesen. Im Unterschied zum Jain-Mönch hält der buddhistische Mönch jedoch keinen Besen vor sich oder trägt ständig einen Mundschutz – das heißt, in der Praxis werden unbeabsichtigte kleine Schädigungen als in der samsarischen Welt unvermeidlich anerkannt. Wichtiger ist im Buddhismus der Geisteszustand: die Abwesenheit von böser Absicht („Nicht-Verletzen in Gedanken“ (Teachings Of Jain Religion: Ahimsa | Prashuk Jain)). Buddha lehrte, dass moralisches Handeln vor allem auf der richtigen Intention basiert. So wird z.B. der Verzehr von Fleisch im Theravāda dann für zulässig gehalten, wenn das Tier nicht extra für einen getötet wurde – die Handlung des Essens gilt als an sich nicht gewalttätig, sofern kein Mitwirken an einer Tötung vorlag. Ein Jain würde dem entgegnen, dass auch damit indirekt Gewalt unterstützt wird, doch der Buddhist fokussiert eher auf Gier und Anhaftung als Ursachen. Dafür geht der Buddhismus über den Jainismus hinaus, indem er auch verbalem und mentalem Nicht-Verletzen großes Gewicht beimisst (Beispiel: keine üble Nachrede, kein Zorn kultivieren). In der Laienethik erlaubt der Buddhismus streng genommen keine Ausnahme vom Tötungsverbot – es gibt kein vom Buddha autorisiertes Konzept eines „gerechten Krieges“ oder ähnliches. Dennoch mussten buddhistische Gesellschaften, analog zu den Hindu-Gesellschaften, pragmatische Lösungen für Selbstverteidigung und Herrschaft finden. In der Geschichte gab es buddhistische Herrscher, die Kriege führten (Ashoka vor seiner Wandlung, später z.B. einige Kaiser in Südostasien oder Japan). Solche Handlungen mussten karmisch gerechtfertigt oder zumindest entschuldigt werden. Teilweise nahm man Zuflucht zu Vorstellungen, dass ein Beschützen der Lehre oder der Bevölkerung höhere Pflicht sei – eine Argumentation, die jedoch in den Lehrreden des Buddha selbst kaum Unterstützung findet (er bleibt dort sehr rigoros). So blieb auch im Buddhismus ein Spannungsfeld: Das Idealbild ist Ahimsa ohne Ausnahme, aber die Lebenswirklichkeit brachte manchmal Dilemmata, in denen doch zu den Waffen gegriffen wurde. Buddhistische Theoretiker haben diese Fragen diskutiert, doch insgesamt bleibt der Buddhismus in seinen Schriften näher an absoluter Gewaltlosigkeit als der Hinduismus. Ein wesentlicher Punkt: Im Buddhismus fehlt der Glaube an eine unumgängliche Kriegerkaste oder an Gottesbefehle zum Kriegführen; Gewalt ist stets eine tragische Verirrung, kein gottgefälliges Werk. Damit ähnelt die buddhistische Grundhaltung eher der jainistischen (Gewalt = Unheil), auch wenn die praktische Strenge der Jains bei den Buddhisten etwas gemildert ist (Stichwort Intentionalität).
Christentum: Auch im Christentum finden sich Ideale der Gewaltlosigkeit, insbesondere in den Lehren Jesu. In der Bergpredigt fordert Jesus: „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ und „Liebet eure Feinde“ (vgl. Matthäus 5,39.44) (Teachings Of Jain Religion: Ahimsa | Prashuk Jain). Diese radikale Vergebungs- und Liebesethik entspricht dem Geiste nach dem Ahimsa-Prinzip. Frühchristliche Gemeinschaften zur Zeit der Römer betonten oft Pazifismus; viele frühe Märtyrer wählten den Tod, statt Gewalt gegen ihre Verfolger anzuwenden. Die christliche Tradition hat jedoch eine ambivalente Entwicklung durchgemacht. Ab dem 4. Jahrhundert (mit Kirchenvater Augustinus) entstand die Lehre vom „gerechten Krieg“, wonach unter strengen Bedingungen die Teilnahme an Krieg erlaubt sein könne (etwa zur Verteidigung der Unschuldigen). In der Folge segnete die Kirche in vielen Epochen auch gewaltsame Konflikte ab, sofern sie als gerecht oder notwendig galten. Dennoch gab es im Christentum immer wieder pazifistische Bewegungen und Heilige, die streng gewaltlos lebten – z.B. die Franziskaner (Franz von Assisi liebte die Tiere und predigte Frieden selbst zu Zeiten der Kreuzzüge) oder Gemeinschaften wie Quäker, Mennoniten und Amish, die jede Gewaltanwendung verweigern. Im 20. Jahrhundert orientierten sich christliche Bürgerrechtler wie Martin Luther King Jr. an Gandhis Ahimsa-Konzept und verbanden es mit Jesu Nächstenliebe zu einem machtvollen Instrument sozialen Wandels. Zusammengefasst propagiert das Christentum auf der Ebene der Ideale (Liebe, Vergebung) eine mit Ahimsa vergleichbare Haltung, doch hat es – anders als der Buddhismus – theologisch Konzepte entwickelt, um unter gewissen Umständen Gewalt zu rechtfertigen (Selbstverteidigung, Schutz der Schwachen, etc.). Dieser Unterschied hat historische Konsequenzen: Während buddhistische Länder keine Religionskriege im Namen Buddhas kennen, gab es in der Geschichte christlich motivierte Kriege (Kreuzzüge) oder Religionsverfolgungen, die mit einem Abwägen des „geringeren Übels“ legitimiert wurden.
Islam: Der Islam leitet sich sprachlich von Salaam (Frieden) ab und strebt in seiner idealen Vision eine friedvolle, gerechte Gesellschaft an. In den Lehren des Propheten Mohammed gibt es zum einen einen starken Aufruf zur Barmherzigkeit – Gott wird im Koran überwiegend als „der Barmherzige“ bezeichnet –, zum anderen aber auch die Erlaubnis, in bestimmten Fällen zu kämpfen. Frühislamische Gemeinden übten zunächst Geduld unter Verfolgung (ähnlich wie frühe Buddhisten und Christen), doch als sie eine eigene Gemeinschaft bildeten, wurde ihnen die Verteidigung mit Waffen gestattet. Der Koran sagt: „Es soll kein Zwang sein im Glauben“ (2:256) und betont, dass das Töten eines Unschuldigen einer der schlimmsten Sünden ist (vgl. 5:32). Gleichzeitig enthält er Regelungen für die gerechte Kriegsführung (Jihad im Sinne des Abwehrkampfes): Kampf ist erlaubt, wenn die Religion oder die Gemeinde verteidigt werden muss, aber selbst dann gelten strenge Regeln – keine Tötung von Unbeteiligten, Schonung von Kindern, Frauen, Alten, keine mutwillige Zerstörung von Lebensgrundlagen etc. Gewalt im Islam ist also normativ nur defensiv und geregelt zulässig. Dennoch gab es in der Geschichte Auslegungen, die auch offensive Gewalt rechtfertigten. Der Sufismus (islamische Mystik) wiederum betont, dass der „größere Jihad“ der Kampf gegen das eigene niedere Selbst (Ego, Wut, Hass) ist – was dem inneren Aspekt von Ahimsa entspricht. So sagte ein Sufi sinngemäß: „Der beste Kämpfer ist der, der seinen Zorn mit Geduld bezwingt.“ Das islamische Konzept Rahma (Barmherzigkeit) gebietet zudem Güte gegenüber Tieren – viele Hadithe (Überlieferungen) loben z.B. das Versorgen eines durstigen Hundes als gottgefällig oder tadeln unnötige Härte gegenüber Tieren. Nichtsdestotrotz kennt die Scharia Schlachtopfer und erlaubt Fleischverzehr breit, was Jainismus und oft Buddhismus strikt ablehnen. Insgesamt steht der Islam in Bezug auf Gewaltlosigkeit dem Christentum ähnlich: Friedfertigkeit wird hochgeschätzt, doch wird Gewalt unter bestimmten Umständen als unvermeidbar oder gerechtfertigt anerkannt. Absoluter Pazifismus ist im Mainstream-Islam selten, doch gibt es auch hier Gruppen (etwa die Ahmadiyya oder bestimmte spirituelle Zirkel), die Gewalt radikal ablehnen.
Konfuzianismus und Daoismus: Außerhalb Indiens gibt es ebenfalls Parallelen. Der chinesische Konfuzianismus betont Ren (Menschlichkeit) und Shu (Negativform der Goldenen Regel: „Was du selbst nicht wünschst, tue nicht anderen an“). Daraus folgt eine Empfehlung zu Mitgefühl und mildem Regieren. Allerdings rechtfertigt Konfuzius in gewissem Maße die Anwendung von Strafen und – im äußersten Fall – Gewalt, um das Gemeinwohl zu sichern. Daoismus hingegen idealisiert Gewaltlosigkeit stärker: Laotse sagt, der Weise siege ohne zu kämpfen und „gibt keinem Lebewesen Grund, ihn zu fürchten“. Daoistische Herrscher wie Kaiser Ashoka in Indien strebten eine Politik des Wu Wei (Nichthandelns im Sinne von Nichtaggression) an. Doch auch im Daoismus gibt es keine explizite Ahimsa-Pflicht für jeden einzelnen.
Fazit des Vergleichs: Ahimsa – die Ethik der Nicht-Gewalt – ist ein Leitmotiv, das sich in verschiedenen Religionen in unterschiedlichen Formen manifestiert. Jainismus verkörpert die strikt individuelle Gewaltlosigkeit am konsequentesten. Buddhismus teilt den spirituellen Kern dieser Gewaltlosigkeit, kombiniert ihn aber mit großem Mitgefühlsideal und praktischer Klugheit in Bezug auf Absicht und Umstände. Hinduismus anerkennt Ahimsa als hohen Wert, balanciert ihn jedoch mit Pflichten und gesellschaftlicher Ordnung. Die abrahamitischen Religionen (Christentum, Islam) lehren im Grunde ebenfalls Liebe und Barmherzigkeit (damit implizit Gewaltverzicht), doch in ihrer historischen Ausgestaltung erlaubten sie – anders als Buddhismus und Jainismus – theologisch legitimierte Gewalt in bestimmten Kontexten. Trotzdem haben auch sie pazifistische Unterströmungen. Insgesamt zeigt sich: Fast alle Religionen kennen die Goldene Regel oder den Imperativ, Leben zu achten. Buddhismus ragt dadurch hervor, dass er (ähnlich wie Jainismus) Gewalt niemals als gottgewollt positiv darstellt, sondern höchstens – aus Mitgefühl – als geringeres Übel in Ausnahmefällen duldet. Die Essenz von Ahimsa, nämlich die Wertschätzung jedes Lebens und die Transformation von Hass in Liebe, ist jedoch eine wahrhaft universelle Botschaft, die in allen spirituellen Traditionen Anklang findet. Oder, wie der Dalai Lama es formulierte: „Nicht-Gewalt betrachte ich als tätiges Mitgefühl“ – ein Grundsatz, der über Religionsgrenzen hinaus verstanden wird.