Ahimsa im Buddhismus

Ahimsa in Verbindung mit Parākrama und Abhaya (Mut und Furchtlosigkeit)

Ahimsa wird oft fälschlich als Zeichen von Schwäche oder Passivität missverstanden. In Wahrheit erfordert konsequente Gewaltlosigkeit große innere Stärke, Mut und Furchtlosigkeit. Das Sanskritwort Parākrama bedeutet „Tapferkeit, Heldenmut oder energisches Vorgehen“ (Parakrama, Para-krama, Parākrama: 22 definitions), während Abhaya „Furchtlosigkeit“ bezeichnet. Beide Begriffe stehen in engem Zusammenhang mit Ahimsa, indem sie jene Qualitäten beschreiben, die nötig sind, um Gewaltlosigkeit auch unter schwierigen Umständen aufrechtzuerhalten.

Mut zur Gewaltlosigkeit: Schon Mahatma Gandhi – stark beeinflusst von buddhistischen und jainistischen Idealen – betonte, dass echte Gewaltlosigkeit niemals Feigheit sei, sondern im Gegenteil höchste Tapferkeit erfordere. Ähnliches findet sich in traditionellen Lehrtexten. So schreibt Swami Sivananda: „Ahimsa ist der Gipfel der Tapferkeit. Ahimsa ist nicht möglich ohne Furchtlosigkeit. Nicht-Gewalt kann nicht von schwachen Personen praktiziert werden“ (Teachings Of Jain Religion: Ahimsa | Prashuk Jain). Wer ängstlich um sein eigenes Leben ist oder keinen Mumm zur Ausdauer hat, kann im Moment der Bedrohung kaum friedvoll bleiben (Teachings Of Jain Religion: Ahimsa | Prashuk Jain). Gewaltlos zu bleiben, wenn man selbst Angriff oder Ungerechtigkeit erfährt, verlangt enorme Selbstbeherrschung und Mut. Der Praktizierende braucht Parākrama, eine entschlossene innere Kraft, um auch bei Provokation nicht aggressiv zu reagieren. Es ist ein „Schild nicht der Verzagten, sondern der Potenten“ – Ahimsa ist die Waffe der Starken (Teachings Of Jain Religion: Ahimsa | Prashuk Jain). Diese Sicht teilen Hinduismus und Buddhismus gleichermaßen: Nur ein wirklich starker Geist kann vollkommen gütig bleiben.

*Abhaya – Furchtlosigkeit und Schutz: Im Buddhismus ist Abhaya (Furchtlosigkeit) ein positiv besetzter Begriff. Der Buddha wird häufig mit der Abhaya-Mudrā dargestellt – der Handhaltung des erhobenen rechten Arms mit nach außen geöffneter Handfläche. Diese Geste signalisiert Schutz und die Abwesenheit von Furcht: „Fürchte dich nicht.“ Sie symbolisiert, dass man in Gegenwart des Buddha – und in Gegenwart eines jeden, der Ahimsa vollkommen verkörpert – keine Angst haben muss. Ein heiliger Text des Yoga (der Yoga-Sutra 2.35) drückt dies so aus: „Wenn der Yogi fest gegründet ist in Nicht-Verletzen (Ahimsa), hören alle Feindseligkeit und Angst im Umfeld auf.“ Mit anderen Worten: Wer in vollkommener Gewaltlosigkeit lebt, strahlt eine solche Friedfertigkeit aus, dass selbst andere Wesen friedlich werden und niemandem mehr Furcht einflößen. Dieses Ideal findet sich auch im Buddhismus – beispielsweise wird vom buddhistischen Heiligen Upasaka Anathapindika gesagt, kein Wesen fürchte sich in seiner Nähe, so gütig sei seine Aura. Zudem kennt der Buddhismus das Konzept des Abhaya-Dāna, der „Gabe der Furchtlosigkeit“: Hierunter versteht man das Schenken von Sicherheit an alle Wesen, indem man ihnen garantiert, keine Gewalt anzutun. Es heißt, dies sei eines der größten Geschenke überhaupt. Wer Ahimsa übt, gibt seinen Mitgeschöpfen somit das Geschenk, ohne Angst leben zu können – ein Akt tiefster Mitmenschlichkeit (bzw. Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen).

Courage in Aktion: Mut und Gewaltlosigkeit gehen in der Praxis Hand in Hand. Es erfordert Mut, in Konflikten den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun oder Unrecht ohne Hass entgegenzutreten. Historische Beispiele zeigen die Kraft des furchtlosen Mitgefühls: Buddha begegnete dem berüchtigten Räuber Angulimala mit unerschütterlicher Ruhe und Liebe. Obwohl Angulimala ihn töten wollte, spürte er kein Flackern von Angst oder Ärger beim Buddha – diese Furchtlosigkeit und Güte bekehrten den Räuber schließlich, noch bevor es zur Tat kam. Ebenso zeigen Zen-Meister Geschichten: Etwa stand einmal ein Mönch vollkommen still, als ein wütender Krieger ihm drohte; der Krieger, beeindruckt von der Furchtlosigkeit des Mönchs, ließ vom Angriff ab und gewann Respekt. Solche Begebenheiten illustrieren, dass Ahimsa manchmal sogar aktiven Mut erfordert – nämlich den Mut, auf Gewalt zu verzichten, auch wenn es gefährlich scheint. Parākrama bedeutet hier, proaktiv dem Kreislauf der Gewalt entgegenzutreten, jedoch ohne selber zur Waffe zu greifen. Stattdessen „kämpft“ der Praktizierende mit den Waffen der Wahrheit (Satya) und Liebe (Prema), ganz im Sinne Gandhis Satyagraha-Philosophie.

Ahimsa, Abhaya und spiritueller Fortschritt: In buddhistischen Darlegungen der Paramitas (Vollkommenheiten eines Bodhisattva) spiegelt sich dieser Zusammenhang ebenfalls. Die Virya-Pāramitā – oft mit Tatkraft, Heldenmut oder freudiger Anstrengung übersetzt – ist eine der sechs Perfektionen auf dem Weg zur Erleuchtung. Sie beinhaltet die Ausdauer, das Gute zu tun, und die Tapferkeit, Laster wie Zorn oder Feigheit zu überwinden. Ein Bodhisattva braucht Virya (mutige Energie), um Ahimsa selbst in widrigen Umständen zu praktizieren. Abhaya wiederum gilt als Merkmal Bodhisattvischen Handelns: In den buddhistischen Jatakas opfert der Bodhisattva oft sein eigenes Wohl ohne Zögern, um andere zu retten, was höchste Furchtlosigkeit zeigt. Ein drastisches Beispiel findet sich im Upaya-Kausalya-Sutra: Ein Bodhisattva-Schiffskapitän erfährt, dass ein Pirat 500 Passagiere töten will. Aus grenzenlosem Mitgefühl – sowohl für die potenziellen Opfer als auch für den Mörder, den durch die Tat endloses karmisches Leid erwarten würde – fasst sich der Bodhisattva ein Herz und tötet den Piraten kurzerhand selbst. Er nimmt dafür freiwillig schlimme karmische Folgen auf sich, nur um den anderen dieses Schicksal zu ersparen. In dieser ausnahmsweise Gewalttat manifestieren sich paradoxerweise Ahimsa und Abhaya zugleich: Der Bodhisattva handelt aus vollkommener Nächstenliebe und völlig selbstlos, was den Geist der Gewaltlosigkeit wahrt, und er benötigt enorme Furchtlosigkeit und moralischen Mut, um diese Last zu tragen. Solche Geschichten betonen, dass Ahimsa kein simples Wegducken ist, sondern in höchsten Ausprägungen sogar heldenhafte Opferbereitschaft bedeuten kann – Mut, sich selbst zurückzustellen, und Furchtlosigkeit, konsequent dem Mitgefühl zu folgen.

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