Mitgefühl (Karuna) und soziales Engagement im Buddhismus

Soziales Engagement in verschiedenen buddhistischen Traditionen

Obwohl Mitgefühl im Buddhismus universell wichtig ist, haben die verschiedenen Traditionen teils unterschiedliche Schwerpunkte, wie dieses Mitgefühl in der Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Theravāda, Mahayāna/Zen und Vajrayanā (tibetischer Buddhismus) bringen jeweils eigene Perspektiven auf sozialpolitisches Engagement und Protest mit:

  • Theravāda (Sri Lanka, Südostasien) – In den überwiegend theravādinen Ländern liegt traditionell der Fokus eher auf persönlicher ethischer Lebensführung und spiritueller Entwicklung. Tugenden wie Selbstbeschränkung, moralische Disziplin (Sila) und Großzügigkeit (Dana) stehen im Vordergrund (Engaged Buddhism: Meditation In Action – Tricycle). Soziales Engagement zeigte sich lange vor allem durch Wohltätigkeit: Tempel betreiben Waisenhäuser, Mönche lehren Laien Ethik, man hilft im Dorfleben. Direktes politisches Protestverhalten war von monastischer Seite eher selten, da Mönche sich aus weltlichen Streitigkeiten heraushalten sollten. Dennoch gibt es in der Theravāda-Geschichte Beispiele für Engagement: Der buddhistische König Ashoka (3. Jh. v. Chr.) gilt als Pionier, der aus Mitgefühl Krankenhäuser für Menschen und Tiere errichtete – eine frühhistorische Form von Sozialreform (Engaged Buddhism: Compassion in Action – Mandala Publications). In der Neuzeit traten engagierte Theravāda-Buddhisten hervor wie A.T. Ariyaratne in Sri Lanka (Gründer der Sarvodaya-Bewegung für Dorferneuerung) oder Sulak Sivaraksa in Thailand (ein sozialkritischer Intellektueller und Aktivist). In Myanmar führten 2007 Tausende Mönche bei der sogenannten Safranrevolution friedliche Demonstrationen gegen das Militärregime an – ein eindrucksvolles Zeichen, dass auch im Theravāda die Stimme gegen Unrecht erhoben werden kann, wenn auch gewaltfrei und gesittet (die Mönche rezitierten während des Protestmarsches Sutren). Insgesamt könnte man sagen: Theravāda-Buddhismus ermutigt zur Überwindung individuellen Leidens als Basis, während gesellschaftliches Engagement meist indirekt erfolgt – durch Bildung, Wohltätigkeit und stilles Vorbild. Wo Mönche oder Nonnen aktiv protestieren, tun sie dies aus moralischer Dringlichkeit, aber riskieren damit oft Kritik, da es als “zu politisch” gelten kann. Die Laien hingegen fühlen sich zunehmend legitimiert, auf Basis buddhistischer Ethik für Menschenrechte und Frieden einzustehen. Die Betonung von Großzügigkeit und Mitfreude im Theravāda führt dazu, dass viele Projekte (Schulen, Kliniken, Anti-Armut-Programme) aus buddhistischer Inspiration entstehen – eine eher konstruktive Art des Engagements, im Vergleich zum konfrontativen Protest.
  • Mahayāna und Zen (China, Korea, Japan, Vietnam, Westen) – Im Mahayāna-Buddhismus steht das Bodhisattva-Ideal im Zentrum. Ein Bodhisattva verschreibt sein Leben dem Wohle aller Wesen und scheut keine Mühen, Leiden zu lindern – das kann altruistisches Handeln aller Art bedeuten. Entsprechend offen sind Mahayāna-Traditionen grundsätzlich für sozialen Aktivismus. In der chinesischen Geschichte gab es z.B. klösterliche Gemeinschaften, die Hilfsaktionen bei Hungersnöten organisierten. Japan erlebte im 20. Jh. mehrere buddhistisch inspirierte Bewegungen, die Reformen anstrebten (etwa die Neo-Buddhistische Bewegung Anfang 1900, welche gesellschaftliche Missstände wie Prostitution und Arbeiterrechte adressierte (Understanding Buddhist Activism – Shin Dharma Net) (Understanding Buddhist Activism – Shin Dharma Net)). Allerdings hat insbesondere der Zen-Buddhismus auch Phasen der Anpassung ans Establishment gekannt – etwa in Japan, wo Zen-Meister zur Zeit des Zweiten Weltkriegs teilweise den Nationalismus unterstützten. Solche Beispiele zeigen, dass Buddhismus nicht automatisch sozial progressiv ist; er kann, je nach Interpretation, auch konservativ oder apolitisch gelebt werden. Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand in der Mahayāna-Welt der moderne Engaged Buddhism. Thích Nhất Hạnhs Wirken in Vietnam und im Westen ist paradigmatisch: Er integrierte Meditation, gewaltfreie Aktion und Versöhnungsarbeit zu einem Weg, den viele als Vorbild nahmen (Engaged Buddhism: Compassion in Action – Mandala Publications). In den USA gründeten Zen-Meister wie Bernie Glassman die Zen Peacemakers, die sozial benachteiligten Gruppen helfen und “Bearing Witness”-Retreats an Orten wie Auschwitz veranstalten, um aktiv Mitgefühl zu praktizieren. Zen legt Wert darauf, Achtsamkeit in jeder Tätigkeit zu bewahren – das gilt auch bei Protesten. So gibt es Berichte von Zen-Praktizierenden, die bei Friedensmärschen Gehmeditation machen oder während Kundgebungen Metta-Sätze rezitieren, um im Herzen friedlich zu bleiben. Eine bekannte Zen-Geschichte erzählt, dass der Zen-Meister Tich Quang Duc 1963 in Saigon sich selbst verbrannte, um gegen die Unterdrückung der Buddhisten zu protestieren – ein extremstes Beispiel von Protest als Opfergabe aus Mitgefühl. Diese Tat schockierte die Welt und lenkte Aufmerksamkeit auf das Unrecht, wurde aber auch kontrovers diskutiert, ob sie dem Prinzip der Gewaltlosigkeit entspricht. Viele Mahayāna-Buddhisten sehen darin eine Form furchtloser Mitgefühlsaktion, da der Mönch niemandem schadete außer sich selbst. Im westlichen Zen heute propagieren Lehrer wie Joan Halifax “Stand up to suffering” – aufzustehen gegen das Leiden in der Welt, mit dem Zen-Geist der Gegenwärtigkeit. Insgesamt gilt Mahayāna als sehr ermutigend für soziales Handeln: Weisheit und Mitgefühl sollen Hand in Hand gehen, um die Welt hier und jetzt zu verbessern, nicht erst im Nirvana. Gleichzeitig mahnt Zen zur Leere (Shunyata): Alle Phänomene sind letztlich leer von fester Substanz – auch politische Probleme. Das soll nicht zur Gleichgültigkeit führen, aber zu einer gewissen Leichtigkeit: “Tu was du kannst, aber hafte nicht daran” – handle engagiert, doch sei innerlich frei. Diese Balance ist die Kunst eines Zen-Bodhisattva im Alltag.
  • Vajrayāna (tibetischer Buddhismus) – Im Vajrayāna, das auf Mahayāna aufbaut, wird Mitgefühl radikal mit Weisheit verbunden. Viele tibetische Lehrer betonen, dass Mitgefühl ohne Weisheit fehlgeleitet sein kann und umgekehrt. Die tibetische Kultur bis 1950 war theokratisch, direkte politische Partizipation der breiten Masse kannte man kaum. Nach der chinesischen Besetzung Tibets wurden jedoch tausende Mönche und Nonnen zu Flüchtlingen – und plötzlich auch zu Aktivisten in eigener Sache. Der 14. Dalai Lama verkörpert diese neue Rolle: Er ist nicht nur spirituelles Oberhaupt, sondern auch eine globale moralische Stimme für Gewaltlosigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz. Er argumentiert, “nur durch die Entwicklung von Mitgefühl und Verständnis für andere finden wir den Frieden und das Glück, das wir suchen” (47 Dalai Lama Quotes That Will Change the Way You See the World). Obwohl er sich aus parteipolitischen Dingen heraushält, spricht er offen Missstände an (z.B. er verurteilte Rassismus oder appellierte an die Verantwortlichen in der Klimakrise). Viele tibetische Lamas engagieren sich über ihre Klöster hinaus in Hilfsprojekten – sei es Schulen im Himalaya, Hospize oder interreligiöser Dialog für den Frieden. Eine Besonderheit im Vajrayāna ist die Vorstellung von “wrathful compassion” (zornigem Mitgefühl): Manche tantrische Gottheiten erscheinen zornvoll, symbolisieren aber Mitgefühl in schützender, entschlossener Form. Dies lehrt, dass Mitgefühl nicht immer sanft sein muss – manchmal braucht es entschlossene, kraftvolle Maßnahmen, die aber im Innern von Mitgefühl motiviert sind. So wird gelegentlich die Parallele gezogen: Ein Bodhisattva im Vajrayāna könnte notfalls streng oder einschneidend handeln (wie ein Arzt, der einen schmerzhaften Eingriff vornimmt), um größeres Leid abzuwenden – jedoch niemals aus Hass. In der Praxis bedeutet das z.B., dass tibetische Mönche zwar für Tibet demonstrieren, aber vom Dalai Lama instruiert sind, niemals Gewalt anzuwenden und keine Feindseligkeit gegen Chinesen zu hegen. Meditation und Ritual bleiben im Vajrayāna die Hauptwege, um die Welt zu beeinflussen – man glaubt an die transzendente Wirkung von Gebeten, Mantras und geistiger Ausrichtung. So fand etwa 2015 ein globales Gebetsfest tibetischer Lamas für den Weltfrieden statt, anstatt eines politischen Kongresses. Dennoch gibt es auch hier Beispiele konkreter Aktionen: Der 17. Karmapa (ein junger tibetischer Lehrer) engagiert sich stark für Umweltschutz und ruft Mönche dazu auf, Bäume zu pflanzen und Plastik zu vermeiden – also engagierter Buddhismus in ökologischer Form. Insgesamt versucht Vajrayāna, innere Transformation als Basis für äußere Wirkung zu sehen: Wenn genug Menschen ihr Bewusstsein heilen, heilt auch die Gesellschaft. Proteste werden nicht abgelehnt, aber man betont, dass sie mit reiner Motivation und geistiger Praxis einhergehen müssen, um wirklich positiv zu wirken.

Trotz dieser Unterschiede lässt sich feststellen: Keine buddhistische Tradition lehnt Mitgefühl oder Hilfsbereitschaft ab – sie variieren nur in der Betonung von direkter Aktion versus innerer Arbeit. Theravāda hebt die individuelle Läuterung hervor, woraus gutes Handeln folgt; Mahayāna drängt zur aktiven Helfertätigkeit als integraler Pfad; Vajrayāna strebt die Transformation von Energie (z.B. Zorn in Weisheit) an, was indirekt gesellschaftlich wirken soll. In der heutigen globalisierten Welt fließen diese Sichtweisen oft zusammen. Viele Buddhisten – egal welcher Schule – fühlen sich angesichts von Klimakrise, sozialer Ungerechtigkeit oder politischem Extremismus verpflichtet, nicht zu schweigen. Dabei berufen sich alle auf die gleichen Grundprinzipien Buddhas: Gewaltlosigkeit, Mitgefühl, Einsicht in die Einheit allen Lebens. Die Ausdrucksformen mögen verschieden sein, doch das gemeinsame Ziel ist, Leid zu verringern. So kann man sagen: Engagierter Buddhismus ist keine exklusive „Schule“, sondern ein Impuls, der in allen Traditionen auflebt, sobald die Umstände es erfordern. Die aktuellen Proteste gegen Rechtsextremismus – ob in Paderborn oder anderswo – sind ein modernes Beispiel dafür, wie Buddha-Dharma lebendig wird: indem Menschen aus Liebe zur Mitwelt den Mut finden, Unheilvolles nicht einfach hinzunehmen.

Empfehlungen und Übungen für engagierte Praktizierende

Wie kann man nun ganz konkret buddhische Praxis nutzen, um Mitgefühl und Gleichmut während des sozialen Engagements zu stärken? Im Folgenden einige praktische Empfehlungen und Übungen, die sich für engagierte Buddhist*innen bewährt haben:

  • Mitgefühls-Meditation (Karunā Bhāvanā): Eine regelmäßige Meditationsübung zur Kultivierung von Mitgefühl legt den Grundstein für nachhaltiges Engagement. Eine klassische Variante ist die Metta-Meditation, in der man zunächst sich selbst, dann nahestehenden Personen, dann Neutralen und schließlich auch schwierigen Menschen gute Wünsche sendet: “Mögest du glücklich sein. Mögest du frei sein von Leid.” Diese Meditation erweitert schrittweise unser Herz. Sie kann speziell auf die aktuelle Situation angepasst werden: Man könnte z.B. die eigenen “Gegner” – etwa die Vertreter einer rechtsextremen Gruppe – in die Meditation einschließen, um trotz inhaltlicher Gegnerschaft eine menschliche Verbindung der Güte herzustellen. Tonglen ist eine tibetische Mitgefühlsmeditation, die Pema Chödrön lehrt: Dabei stellt man sich beim Einatmen das Leid einer Person oder Gruppe bildlich vor (etwa die Angst einer Minderheit vor rechtsextremer Gewalt) und beim Ausatmen sendet man Erleichterung und Liebe an sie (How to Practice Tonglen Meditation | Lion’s Roar). Diese Übung kann auch “auf der Stelle” angewandt werden – zum Beispiel mitten bei einer Kundgebung: Wenn man spürt, jemand leidet (sei es ein Mitstreiter oder sogar ein Gegner voller Hass, der im Grunde selbst ein leidender Mensch ist), kann man ein paar Atemzüge lang still sein Leid einatmen und ihm Mitgefühl ausatmen (How to Practice Tonglen Meditation | Lion’s Roar). Solche Meditationen – ob auf dem Sitzkissen vorab oder situativ – nähren das Bodhicitta (den Erwachensgeist des Mitgefühls) und verankern die Motivation in altruistischer Liebe statt in Wut.
  • Kontemplation zur Motivationsklärung: Vor engagierten Aktionen lohnt es sich, kurz nach innen zu schauen und die eigene Motivation zu prüfen. Dies kann in Form einer stillen Frage-Meditation geschehen: “Warum tue ich das? Aus welchem Geisteszustand heraus möchte ich handeln?” Man setzt sich für ein paar Minuten hin, atmet ruhig und schaut ehrlich in sich hinein. Wenn man dort z.B. überwältigenden Zorn entdeckt, könnte man sich vornehmen: Ich werde versuchen, meinen Protest als Ausdruck der Fürsorge zu gestalten, nicht als Ventil meines Zorns. Wenn man Angst oder Zweifel spürt, erinnert man sich: Es geht hier nicht um mich allein; ich verbinde mich mit vielen und handle für etwas Größeres. Auch hilfreich ist die Kontemplation der Interdependenz: “Ich bin Teil des Problems und der Lösung. Indem ich an mir arbeite, arbeite ich an der Welt, und indem ich für die Welt arbeite, kultiviere ich mich selbst.” Diese Sicht verhindert sowohl Überheblichkeit als auch Selbstunterschätzung. Einige Praktizierende führen ein Tagebuch der Motivation, in das sie vor und nach Aktionen ein paar Ehrlichkeitssätze schreiben – etwa: “Heute merkte ich, ich wollte den anderen unbedingt beweisen, dass ich Recht habe. Beim nächsten Mal möchte ich mehr zuhören.” Solche Selbstreflexion im Lichte der buddhistischen Lehren (Nicht-Anhaftung, Nicht-Ich, Mitgefühl) ist ein ständiger Prozess, der uns hilft, purere Beweggründe zu entwickeln. Auch das Studium inspirierender Texte kann Teil der Kontemplation sein: Beispielsweise die Lektüre von Shantidevas Versen über Geduld und Mitgefühl kurz vor einer Demo kann den Geist ausrichten. Oder man erinnert sich an Vorbilder: “Was würde Buddha in dieser Situation tun?” – wahrscheinlich ruhig bleiben, klar sprechen, Liebe ausstrahlen. Diese innere Ausrichtung schützt davor, im Eifer des Gefechts vom Weg abzukommen.
  • Achtsamkeitsübungen während Aktionen: In der Hitze einer Demonstration oder einer sozialen Aktion ist es leicht, die Achtsamkeit zu verlieren. Daher ist es sinnvoll, konkrete Übungen parat zu haben, um immer wieder ins Gewahrsein zurückzukehren. Eine einfache Methode ist die Achtsamkeit auf den Atem: Man verabredet vielleicht mit sich selbst, jedes Mal wenn ein bestimmtes Signal kommt (z.B. Parolenruf oder wenn man an einer bestimmten Straßenecke ankommt), einen tiefen bewussten Atemzug zu nehmen. Dieser Atem erinnert einen: Ich handle achtsam. Manche Gruppen integrieren in ihre Märsche bewusst Momente der Stille – z.B. eine Schweigeminute mitten in der Kundgebung – was auch einer Meditation gleicht und allen Anwesenden Raum gibt, sich zu zentrieren. Eine andere Übung ist “Noting”: Dabei beobachtet man die eigenen Gefühle in Echtzeit und benennt innerlich sachlich, was auftaucht: “Ärger ist da… Urteilen ist da… auch Mitgefühl ist da… Herzklopfen ist da…” Diese Technik, die aus der Vipassana-Meditation stammt, hilft dabei, nicht blind vom Gefühl mitgerissen zu werden, sondern es mit etwas innerer Distanz zu betrachten. Wenn etwa ein Gegendemonstrant plötzlich aggressive Worte ruft und man merkt “Ärger flammt auf”, kann man durch das Benennen “Ärger, Ärger” diesen schon etwas entschärfen und dann bewusst tiefer atmen. Ein praktischer Tipp von engagierten Mönchen lautet: “Gehe wie ein Buddha” – d.h., erinnere dich während des Laufens in der Menschenmenge immer wieder an eine würdevolle, mitfühlende Haltung. Man kann bei jedem Schritt denken: “Frieden – und – Mitgefühl – Frieden – und – Mitgefühl”, synchron zum Gehen. So wird der Protestmarsch selbst zu einer Gehmeditation. Auch Gathas (kurze Achtsamkeitssprüche) können helfen. Thích Nhất Hạnh schlug zum Beispiel vor, beim Hören von Sirenen oder Schreien zu denken: “Möge niemand verletzt werden. Möge Mitgefühl herrschen.” Diese innere Rezitation hält den Geist auf einer heilsamen Spur. Wenn möglich, kann man sich mit Mitpraktizierenden absprechen, kleine “Achtsamkeitsinseln” im Ablauf einzubauen – etwa vor dem Start der Demo einen Kreis zu bilden, gemeinsam drei Atemzüge in Stille zu nehmen oder ein kurzes Metta-Gedicht zu sprechen. Solche Rituale verankern den Dharma-Geist in der Aktion. Sie sind insbesondere dann Gold wert, wenn tatsächlich etwas Unerwartetes passiert (z.B. ein Zusammenstoß mit der Polizei oder Provokationen): Wer geübt hat, im Sturm innezuhalten, kann deeskalierend wirken. Schließlich gehört zur Achtsamkeit auch die Nachbereitung: Nach der Aktion sich Zeit nehmen, zu spüren, was in Körper und Geist vorgeht. Vielleicht aufkommende Enttäuschung (wenn wenige Leute da waren) bemerken, oder euphorische Freude (wenn es gut lief) mit Bewusstsein erleben, ohne daran anzuhaften. Ein gemeinsames Abschluss-Sitzen oder Chanten kann helfen, Erlebtes zu verarbeiten und loszulassen.

All diese Übungen – Mitgefühlsmeditation, Motivationskontemplation, Achtsamkeit im Tun – zielen darauf ab, dass spirituelle Praxis und soziales Handeln eins werden. So wird Engagement nicht zu einer Quelle von Stress und Verbitterung, sondern zu einem Feld der Praxis: Jede Demonstration, jedes schwierige Gespräch wird zur “Übung auf dem Weg”. Wichtig ist die Regelmäßigkeit: genau wie der Muskel wächst, wenn man kontinuierlich trainiert, so wächst das mitfühlende Herz und der klare Geist durch fortwährende Übung. Besonders in turbulenten Zeiten sollte man sich immer wieder zurückziehen zur Stille, um Kraft zu schöpfen. Geführte Meditationen (viele Zentren bieten z.B. Metta-Meditationen online an) können dabei unterstützen. Auch der Austausch in einer Übungsgruppe hilft, Erfahrungen zu reflektieren: Man merkt, dass man mit seinen inneren Kämpfen (Wut, Ohnmacht, etc.) nicht allein ist und kann voneinander lernen.

Fazit

Mitgefühl (Karunā) und soziales Engagement sind im Buddhismus keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus – sei es in Paderborn oder anderswo – zeigen exemplarisch, wie Mitgefühl zum motor zivilgesellschaftlichen Handelns wird: Aus Empathie für Bedrohte erwächst der Mut, öffentlich Stellung zu beziehen. Die buddhistische Lehre bietet einen reichen Schatz, um dieses Engagement weise zu gestalten. Indem wir uns auf die zeitlosen Prinzipien von Gewaltlosigkeit, Achtsamkeit und liebevollem Verständnis besinnen, können wir verhindern, dass der Einsatz gegen Hass seinerseits von Hass infiziert wird. Statt in Dualismus zu verfallen, erinnert uns der Dharma daran, die Menschlichkeit in jedem Wesen zu sehen und auf Heilung statt auf Zerstörung abzuzielen (Compassion in Buddhism: A Psychological Perspective on Media, Reaction, and the Cycle of Samsara – Secular Buddhist Network).

Gleichzeitig ermutigt uns Buddha, nicht passiv zu bleiben. “Sieh das Leid und handle mit Mitgefühl” – dieses implizite Motto zieht sich von den Jātaka-Geschichten (in denen der Bodhisattva sein Leben hingibt, um anderen zu helfen) bis hin zu modernen Lehrern wie Thích Nhất Hạnh, der sagt: “Wirkliches Mitgefühl zeigt sich in Taten.” Es ist normal, dass wir auf diesem Weg Fehler machen, mit unseren Emotionen ringen und manchmal an unsere Grenzen stoßen. Aber jede dieser Erfahrungen ist Teil unseres Lernprozesses. Diskussion und Reflexion spielen dabei eine wichtige Rolle: Praktizierende können in Dialog treten – etwa in buddhistischen Gruppen oder interreligiösen Kreisen – um herauszufinden, wie Protest und Praxis sich gegenseitig befruchten können. Es gibt kein starres Dogma, wie eine Buddhistin sich zu engagieren hat; vielmehr ist es ein kreativer Prozess, den jeder und jede für sich und gemeinsam mit anderen gestalten darf.

Die Herausforderung unserer Zeit – ob Rechtsextremismus, Klimawandel oder soziale Ungleichheit – ruft nach fühlenden Herzen und klaren Köpfen. Ein mitfühlendes Herz allein könnte im Schmerz versinken; ein klarer Kopf allein könnte kalt und unbewegt bleiben. Buddhistische Praxis strebt die Einheit von Herz und Kopf an – so werden Mitgefühl und Weisheit zur treibenden Kraft für heilsames Handeln. Demonstrationen können dann mehr sein als nur politischer Protest: Sie werden zu “Meditationen im Gehen”, zu Pilgerwegen des Mitgefühls, auf denen wir uns selbst verwandeln, während wir die Welt verändern. Ob wir ein Schild hochhalten, Parolen rufen oder still sitzend Frieden ausstrahlen – entscheidend ist die innere Haltung.

Mögen alle, die sich engagieren, die Kraft der Karunā in sich kultivieren und bewahren. Mögen sie aus ihr schöpfen, wenn die Dinge schwierig werden. Und möge dieses Mitgefühl Schule machen: in unseren Familien, Gemeinschaften und letztlich sogar bei jenen, die heute noch vor Angst und Hass ihre Herzen verschließen. Der Buddhismus lädt uns ein, optimistisch zu sein: Jedes noch so kleine bewusste mitfühlende Handeln zählt und wirkt sich im Gefüge des Lebens aus. So können wir Schritt für Schritt eine Welt mitgestalten, in der Mitgefühl und Weisheit die Lautstärksten auf der “Demonstration des Lebens” sind.

weiterführende Quellen: Diese Analyse verwies auf zentrale buddhistische Texte (z.B. Dhammapada (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield)) und moderne Interpretinnen (u.a. Thích Nhất Hạnh (Engaged Buddhism: Compassion in Action – Mandala Publications), Pema Chödrön (How to Practice Tonglen Meditation | Lion’s Roar)). Für Vertiefung seien klassisch der Karaniya Metta Sutta (Sutta Nipata) empfohlen, der die Haltung grenzenloser Güte lehrt, sowie Shantidevas Leitfaden zur Lebensführung eines Bodhisattva (bes. Kapitel über Geduld und Mitgefühl). Zeitgenössisch bieten Werke wie “Aus Liebe zu allem Leben” von Thích Nhất Hạnh oder Pema Chödröns “Wenn alles auseinanderfällt” praktische Einsichten, wie man mitten im Sturm der Welt inneren Frieden bewahren und zugleich engagiert handeln kann. Letztlich ist jeder eingeladen, eigene Erfahrungen zu machen, zu reflektieren und den Dialog fortzuführen – denn der Pfad des Mitgefühls ist lebendig und entwickelt sich mit uns weiter. (Compassion in Buddhism: A Psychological Perspective on Media, Reaction, and the Cycle of Samsara – Secular Buddhist Network) (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield)

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