Eine praxisorientierte Analyse
Einleitung
(Proteste gegen Rechtsextremismus: Was kommt nach den Demos? | tagesschau.de) Zehntausende Menschen demonstrieren friedlich für Vielfalt und Demokratie (hier eine Kundgebung in Frankfurt/Main). Solche Proteste spiegeln gelebtes Mitgefühl und zivilgesellschaftliches Engagement wider.
In Paderborn sind in jüngster Zeit vermehrt Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zu beobachten. Hunderte Bürgerinnen beteiligten sich z.B. Anfang 2025 an Kundgebungen des lokalen Bündnis gegen Rechts und der Initiative Omas gegen Rechts, um gegen Veranstaltungen der AfD zu protestieren (Wieder Demos „gegen Rechts“ – auch in NRW – Nachrichten – WDR). Solche Demonstrationen gegen Rechts sind ein eindrucksvolles Zeichen dafür, dass die Zivilgesellschaft aktiv für Demokratie, Vielfalt und Toleranz einsteht. Sie haben eine hohe gesellschaftliche Relevanz, denn sie zeigen: Mitgefühl mit Betroffenen von Hass und Ausgrenzung kann in tatkräftiges Handeln münden. Diese Analyse beleuchtet, wie das buddhistische Prinzip des Mitgefühls (Karunā) im Kontext sozialen Engagements – speziell bei Protesten gegen Rechts – verstanden und praktiziert werden kann. Nach einem Blick auf die buddhistischen Wurzeln von Karunā (inklusive klassischer Schriften und moderner Lehrerinnen wie Thich Nhat Hanh und Pema Chödrön) werden die inneren geistigen Prozesse und Gefühle diskutiert, die bei sozialem Aktivismus auftreten. Anschließend werden Vorteile und Herausforderungen von Demonstrationen aus buddhistischer Sicht beleuchtet – etwa die Gefahr von Dualismus („Wir gegen sie“), Eskalation oder dem Verlust von Gleichmut. Ein kurzer Vergleich verschiedener buddhistischer Traditionen zeigt auf, wie Theravāda, Zen und Vajrayāna soziales Engagement und Protest bewerten. Konkrete Empfehlungen und Übungen – von Mitgefühlsmeditationen bis Achtsamkeitsübungen – runden die Analyse ab. Ziel ist eine inspirierende, praxisorientierte Darstellung, die sowohl Einsteiger*innen als auch erfahrene Praktizierende anspricht, zum Nachdenken anregt und Raum für eigene Reflexion lässt.
Karunā – Mitgefühl im buddhistischen Kontext
Karunā (Mitgefühl) zählt im Buddhismus zu den zentralen Tugenden. Im Pali-Kanon wird Karunā als eine der vier Brahmavihāra (geistigen “Himmelszustände”) gelehrt, neben liebender Güte (Metta), Mitfreude (Mudita) und Gleichmut (Upekkhā). Es bezeichnet die empathische Antwort auf das Leid – die tiefe Anteilnahme und der Wunsch, das Leiden bei sich und anderen zu lindern (Karuna – BuddhaStiftung). Schon der historische Buddha betonte Mitgefühl als essenziell: So heißt es in den Lehrreden, dass ein edler Mensch dadurch erkannt wird, dass er fürsorglich mit allen Lebewesen umgeht, egal welcher Herkunft (Compassion in Buddhism: A Psychological Perspective on Media, Reaction, and the Cycle of Samsara – Secular Buddhist Network). In der Theravāda-Tradition (der ältesten Schulrichtung) gilt das Verweilen in Karunā als Mittel, inneres Glück zu erlangen und heilsames Karma zu fördern (Karuṇā – Wikipedia).
In den Mahāyāna-Schulen (z.B. Zen, tibetischer Buddhismus) steht Mitgefühl sogar gleichberechtigt neben Weisheit: Ohne Mitgefühl keine Erleuchtung. Ein Bodhisattva – das Mahāyāna-Ideal eines erleuchtungsstrebenden Wesens – verpflichtet sich, aus grenzenlosem Mitgefühl für alle fühlenden Wesen zu handeln. Berühmt ist der Bodhisattva Avalokiteshvara (chin. Guanyin), der als Verkörperung unendlichen Mitgefühls verehrt wird (Avalokiteshvara | Buddhist Deity, Compassionate Bodhisattva | Britannica). Mahāyāna-Sutren (wie das Lotus-Sutra) preisen Avalokiteshvara als jene Kraft, die auf die Schreie der Welt hört und in jeder Notlage rettend eingreift (Bodhisattva delivering us from every danger; Chapter 25 Lotus Sutra …) – ein Sinnbild dafür, dass wahres Mitgefühl aktiv werden will, um Leid zu beseitigen.
Moderne buddhistische Lehrer*innen wie Thích Nhất Hạnh und Pema Chödrön haben Karunā zeitgemäß interpretiert und konkret erfahrbar gemacht. Thích Nhất Hạnh (1926–2022), ein vietnamesischer Zen-Meister, prägte den Begriff Engagierter Buddhismus für die Anwendung buddhistischer Prinzipien in sozialen und politischen Aktionen (Engaged Buddhism: Compassion in Action – Mandala Publications). Während des Vietnamkriegs organisierte er friedliche Proteste, half bei der Versorgung von Kriegsopfern und lehrte seine Mitstreiter*innen, selbst inmitten von Gewalt achtsam und mitfühlend zu bleiben. Sein Leitgedanke: “Mitgefühl in Aktion” – Meditation endet nicht auf dem Kissen, sie entfaltet sich im Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Umwelt. Pema Chödrön, eine westliche buddhistische Nonne der tibetischen Tradition, betont ebenfalls die aktive Kultivierung von Mitgefühl. Sie lehrt z.B. die Meditationstechnik Tonglen, bei der man mit jedem Einatmen das Leid anderer bewusst aufnimmt und mit dem Ausatmen Liebe, Heilung und Erleichterung an sie aussendet (How to Practice Tonglen Meditation | Lion’s Roar). Diese Übung kehrt unsere gewöhnliche Reaktion um – statt vor dem Schmerz anderer zurückzuschrecken, öffnen wir uns ihm. Pema Chödrön schreibt, dass Tonglen unser Herz weitet und uns von Selbstbezogenheit befreit, sodass wir schließlich “Liebe für uns selbst und andere” empfinden (How to Practice Tonglen Meditation | Lion’s Roar). Damit knüpft sie an eine lange buddhistische Tradition an: Mitgefühlsmeditation (sei es die klassische Metta-Bhavana oder Tonglen) ist ein Training des Geistes, das schrittweise die natürliche Empathie vertieft und uns zu selbstlosem Handeln befähigt.
Zusammenfassend ist Karunā in allen Strömungen des Buddhismus hoch geschätzt – als Haltung der Verbundenheit mit allem Leben und als Akt der konkreten Hilfe. Mitgefühl bedeutet im buddhistischen Sinne nicht bloß Mitleid oder Sentimentalität, sondern eine kraftvolle, tätige Anteilnahme: das “leidenschaftslose Engagement für alle leidenden Wesen”. Gerade angesichts von Hass und Unrecht – wie es bei rechtsextremen Umtrieben erlebt wird – bietet Karunā einen Kompass: Es ruft dazu auf, dem Leiden mit offenem Herzen zu begegnen und wo möglich Linderung zu bringen.
Geistige Prozesse und Emotionen bei sozialem Engagement
Wenn engagierte Menschen auf die Straße gehen, um gegen Rechts zu demonstrieren, spielt sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich sehr viel ab. Buddhistisch betrachtet lohnt ein Blick auf die Gedanken, Gefühle und Motive, die bei solchen Aktionen auftauchen. Häufig ist Hoffnung ein treibendes Gefühl – die Hoffnung auf Veränderung zum Besseren, auf eine offene und gerechte Gesellschaft. Hoffnung kann inspirieren und Mut geben, birgt aber auch die Gefahr der Anhaftung an bestimmte Erwartungen. Eine achtsamer Aktivist*in wird versuchen, eine balancierte Hoffnung zu kultivieren: den festen Glauben an die Möglichkeit des Wandels, ohne in Verbitterung zu fallen, falls Erfolge auf sich warten lassen. Die buddhistische Lehre des Nicht-Anhaftens kann hier unterstützen, indem man immer wieder reflektiert: Auch kleine positive Impulse haben Wert, selbst wenn das große Ziel noch fern scheint.
Sehr präsent ist bei Protesten oft Ärger oder Empörung – eine verständliche Reaktion auf Ungerechtigkeit, Hassparolen und menschenfeindliches Verhalten. Diese “Wut über das Unrecht” kann einerseits eine Kraftquelle sein, die uns überhaupt erst aktiv werden lässt. Andererseits warnt der Buddha eindringlich davor, von Zorn beherrscht zu werden. In der Dhammapada heißt es: “In dieser Welt wird Hass niemals durch Hass besiegt, sondern durch Liebe. Das ist ein ewiges Gesetz.” (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield). Diese Weisheit erinnert Demonstrierende daran, achtsam mit der eigenen Aggression umzugehen. Buddhistische Praxis schlägt vor, Ärger zunächst bewusst wahrzunehmen, ohne ihn sofort auszuleben. Jack Kornfield beschreibt beispielsweise, wie man spürt, “die Starre der Aggression, den Schmerz der Wut, die Enge der Angst”, und dadurch einen Raum zwischen Reiz und Reaktion schafft (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield) (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield). In diesem Raum können wir eine Wahl treffen: Lassen wir uns vom Zorn verleiten – vielleicht zu beleidigenden Parolen oder aggressivem Verhalten – oder verwandeln wir die Energie der Empörung in entschlossenen, aber mitfühlenden Einsatz? Unter der heißen Oberfläche der Wut steckt oft Fürsorge und Mitgefühl für jene, die geschützt werden sollen (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield). Wenn wir das erkennen, kann aus blinder Wut ein klares Mitgefühl werden, das uns zwar “furchtlos die Wahrheit sagen und auch laut protestieren” lässt, jedoch ohne Hass im Herzen (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield).
Neben Ärger kann auch Angst eine Rolle spielen: Angst vor Übergriffen rechtsextremer Gegner, Angst vor Eskalation oder persönlicher Anfeindung. Buddhistisch gesehen ist Furcht ein Geisteszustand, der eng mit unserer Anhaftung an Sicherheit und Leben verbunden ist. Der Buddha lehrte, dass Angst durch Verstehen gemindert werden kann – Verstehen etwa der eigenen Sterblichkeit, der Tatsache, dass nichts vollkommen sicher ist, und dass mutiges Handeln manchmal wichtiger ist als das Festhalten an der Komfortzone. Eine achtsame Haltung hilft, die aufsteigenden Ängste zu beobachten: Wie fühlen sie sich im Körper an? Welche Gedanken nähren sie? Indem Demonstrierende ihre eigene Angst freundlich zur Kenntnis nehmen, ohne von ihr überwältigt zu werden, können sie Mut im buddhistischen Sinn entwickeln – nicht die Abwesenheit von Furcht, sondern das Handeln trotz der Furcht, aus einer tieferen Motivation des Mitgefühls heraus.
Ein positives Gefühl, das viele Engagierte berichten, ist Verbundenheit. Wer an einer friedlichen Demo teilnimmt, erlebt oft ein starkes Gemeinschaftsgefühl: Fremde Menschen stehen Schulter an Schulter, vereint durch das gemeinsame Anliegen, etwa Rassismus die Stirn zu bieten. Dieses Erlebnis von Solidarität und Zusammengehörigkeit hat durchaus eine spirituelle Dimension. Im Buddhismus wird die Gemeinschaft (Sangha) als wichtige Kraftquelle angesehen. Bei sozialem Engagement bildet sich eine temporäre Sangha Gleichgesinnter, in der man sich getragen fühlt. Das Herz öffnet sich nicht nur für die direkt Betroffenen (z.B. Minderheiten, die durch rechte Parolen angegriffen werden), sondern auch für die Mitstreiter*innen. Verbundenheit weitet das Mitgefühl: Plötzlich spürt man, dass man Teil eines größeren Ganzen ist – eines Netzes aus Menschen, die sich gegenseitig Mut machen und füreinander Verantwortung übernehmen. Diese Erfahrung der Interdependenz ist ganz im Sinne von Thích Nhất Hảnhs Konzept des “Interseins”, wonach jeder mit jedem verbunden ist. Gleichzeitig kann Verbundenheit aber auch kippen, wenn sie nur auf die eigene Gruppe beschränkt bleibt. Aus buddhistischer Sicht sollte Mitgefühl über Gruppengrenzen hinausreichen: Es schließt letztlich alle Wesen ein, auch jene auf der “anderen Seite” (Compassion in Buddhism: A Psychological Perspective on Media, Reaction, and the Cycle of Samsara – Secular Buddhist Network). Ein Achtsamkeitsübender mag sich also mitten im Protest fragen: Kann ich trotz aller Gegnerschaft anerkennen, dass auch die Anhänger der rechten Gruppe menschliche Wesen mit Leid und Unwissenheit sind? Das heißt nicht, ihr Tun zu billigen, aber es bewahrt davor, das eigene Mitgefühl auf “uns Gute” zu beschränken und “die Bösen” zu entmenschlichen.
Schließlich lohnt ein Blick auf das Spannungsfeld Altruismus vs. Egozentrik in der Motivation. Soziales Engagement wird idealerweise von selbstlosem Mitgefühl getragen – dem Wunsch, anderen zu helfen, ohne an sich selbst zu denken. Doch ehrliche Selbstreflexion zeigt, dass egozentrische Tendenzen sich manchmal einschleichen können. Vielleicht will man als Aktivist*in “auf der richtigen Seite stehen” und erntet insgeheim Anerkennung dafür. Oder man hält an der eigenen Recht-Haben-Wollen fest und verspürt Verachtung gegenüber den “Unbelehrbaren”. Buddhismus fordert hier radikale Ehrlichkeit mit sich selbst: Welche Anteile meines Engagements dienen wirklich dem Wohl anderer, und wo mischen sich subtile egoistische Bedürfnisse ein (nach Lob, nach einem guten Selbstbild, nach einem Feindbild für das eigene Ego)? Solche Fragen können unangenehm sein, aber sie sind fruchtbar. Indem wir unsere Motivation immer wieder klären – z.B. durch stille Kontemplation vor einer Aktion – stärken wir den altruistischen Kern und lassen egozentrische Motive los. Shantideva, ein buddhistischer Gelehrter des 8. Jahrhunderts, empfahl in seinem Werk Bodhicaryāvatāra eine Meditation, in der man die Rollen vertauscht: Man stelle sich vor, selbst in der Lage der anderen zu sein. So erkennt man, dass alle Leid vermeiden und glücklich sein wollen, und entwickelt demütiges Mitgefühl statt selbstgerechten Eifers. Dieses Bewusstsein hilft ungemein, wenn man lautstark auf der Straße steht: Man verliert sich weniger in Feindbildern, sondern behält die Menschlichkeit aller Beteiligten im Blick.
Zusammengefasst spielen bei Demonstrationen gegen Unrecht vielschichtige Emotionen mit: Hoffnung, Empörung, Angst, Solidarität, Fürsorge – und ein ständiger Wettstreit zwischen edlen Motiven und dem eigenen Ego. Die buddhistische Praxis bietet Werkzeuge, um diese inneren Prozesse achtsam zu beobachten und zu steuern. So kann aus der ersten kochenden Wut eine fokussierte, aber mitfühlende Entschlossenheit werden; aus lähmender Angst ein mutiges Mitgefühl; aus blindem Gruppenego ein Gefühl der universellen Verbundenheit. Dies ist ein fortwährender Übungsweg – man wird nicht über Nacht perfekt darin. Doch je mehr wir uns selbst verstehen, desto heilsamer können wir in der Welt wirken.
Demonstrationen im Lichte des Dharma: Vorteile und Fallstricke
Soziale Proteste – wie die Anti-Rechts-Demonstrationen in Paderborn – können aus buddhistischer Sicht sowohl wertvolle Verdienste bringen als auch Herausforderungen mit sich bringen. Zunächst die Vorteile: Aus Mitgefühl untätig zuzusehen, wenn Unrecht geschieht, widerspricht dem Geist des Erwachens. Wer aus authentischem Karunā handelt, praktiziert eigentlich Geistesschulung in der Welt. Eine friedliche Demonstration bietet Gelegenheiten, Großherzigkeit (Dana) zu üben – z.B. indem man Zeit und Energie spendet, um für das Wohl anderer (etwa bedrohter Minderheiten) einzutreten. Sie erlaubt, ethische Prinzipien in die Tat umzusetzen: Gewaltlosigkeit (Ahimsa), Wahrhaftigkeit (Satyam, indem man Missstände benennt) und rechtschaffendes Handeln. In der Gemeinschaft Gleichgesinnter kann man außerdem Eigenschaften wie Geduld, Nachsicht und Freude am Mitfreude (Mudita) kultivieren. Viele Teilnehmer*innen empfinden nach einer gelungenen, friedlichen Kundgebung ein tiefes Gefühl von Freude und Sinnhaftigkeit – ganz im Einklang mit dem buddhistischen Verständnis, dass selbstloses Handeln glücksvermehrend wirkt.
Ein weiterer Pluspunkt: Demonstrationen können “Mitgefühl nach außen tragen”. Indem Menschen mitfühlende Anliegen (etwa “Schützt die Geflüchteten” oder “Niemand soll in Angst leben müssen”) öffentlich vertreten, inspirieren sie andere. Die Gesellschaft wird an Herzqualität erinnert, inmitten rauer politischer Debatten. Aus buddhistischer Sicht sät man durch solches Auftreten positive Samen im kollektiven Bewusstsein. Manchmal können Proteste tatsächlich zu weniger Leid führen – z.B. wenn durch gesellschaftlichen Druck diskriminierende Vorhaben gestoppt werden. Insofern können Demonstrationen karmisch heilsam sein: Sie erzeugen heilsame Energie des Mitgefühls in der Welt, die langfristig gute Früchte tragen mag.
Thích Nhất Hạnh und der Dalai Lama haben wiederholt betont, dass Mitgefühl auch Mut zur Konfrontation bedeuten kann, solange es gewaltfrei geschieht. Ein Demonstrationszug, der laut aber friedlich auftritt, kann im besten Fall sogar eine Form von Meditation in Aktion sein. Beispiele aus der Geschichte untermauern dies: Mahatma Gandhi in Indien oder Dr. Martin Luther King Jr. in den USA führten Massenproteste und zivilen Ungehorsam an – jedoch immer mit der Haltung der Liebe und Gewaltlosigkeit. Sie kämpften gegen Unterdrückung, ohne Hass gegen die Unterdrücker zu hegen (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield). Dadurch bewahrten sie ihre innere Freiheit und konnten erstaunliche gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Solche Vorbilder zeigen aus buddhistischer Perspektive die Macht des mitfühlenden Handelns: Entschlossenheit gepaart mit Güte ist letztlich stärker als blinder Zorn. Eine Demonstration, die aus dieser Geisteshaltung geführt wird, kann also tatsächlich als Bodhisattva-Handlung angesehen werden – ein mutiger Einsatz für das Wohl vieler, bei dem man zugleich die eigenen Geistesgifte (Wut, Angst, Ich-Bezogenheit) transformiert.
Dennoch sind Fallstricke und Spannungsfelder zu beachten, damit Protest nicht den buddhistischen Prinzipien zuwiderläuft. Ein zentrales Problem ist der Dualismus, das Schwarz-Weiß-Denken in “Wir” gegen “Die”. Bei politischen Auseinandersetzungen entsteht leicht ein starkes Gegnerbild. Aus rechten Extremisten werden in unseren Köpfen vielleicht “die Bösen”, während wir uns als “die Guten” definieren. Buddhistisch gesehen ist dieses polarisierende Denken eine Form von moha (Verblendung), da es die Wirklichkeit verzerrt. Mitgefühl zieht keine harten Trennlinien. Im Gegenteil, echtes Karunā überschreitet die Grenzen von Partei oder Gruppe (Compassion in Buddhism: A Psychological Perspective on Media, Reaction, and the Cycle of Samsara – Secular Buddhist Network). Wenn wir uns völlig mit der einen Seite identifizieren, laufen wir Gefahr, auf die “Feinde” nur noch mit Ablehnung zu blicken. In der Hitze des Gefechts skandiert man vielleicht Parolen wie “Nazis raus!” – verständlich aus Protestsicht, aber aus Sicht der Buddha-Natur hat auch ein Nazi die Anlage zur Buddhaschaft (wenn auch sehr verschüttet). Hier lauert die Gefahr, dass Hass gegen den Hass entsteht. Man bekämpft dann nicht mehr nur die Tat (Rechtsextremismus), sondern hasst die Personen. Genau dies möchte der Buddhismus vermeiden. Daher der Appell: auch während einer notwendigen Konfrontation die Menschlichkeit aller Beteiligten nicht aus den Augen zu verlieren. “Mit den Tätern nicht hassen, was sie tun”, könnte man sagen. In der Praxis könnte das heißen: Sich zwischendurch an den Satz erinnern, “Mögen auch diese Menschen eines Tages Frieden finden und vom Hass loslassen.” Das bedeutet nicht, passiv zu sein oder falsche Toleranz zu üben – man stellt sich entschieden entgegen, aber ohne innere Feindschaft. So achtet man darauf, dass der eigene Protest nicht spaltend wirkt, sondern im Kern Brücken bauen will – zumindest langfristig, durch Vermittlung von Werten.
Ein weiterer Fallstrick ist die mögliche Eskalation von Gewalt. Demonstrationen gegen Rechtsextremismus sind meist als gewaltfreie Versammlungen geplant. Doch es kann Provokationen geben. Im schlimmsten Fall reagieren einige Demonstrierende aus Ärger oder Angst mit Aggression – verbal oder körperlich. Für Buddhist*innen ist Gewaltanwendung eine Grenzüberschreitung, außer vielleicht in Notwehr zum Schutz von Leben. Sobald eine ursprünglich friedliche Demo in handfeste Auseinandersetzungen umschlägt, geht die Klarheit verloren. Der Buddha hat immer wieder die Überlegenheit der Gewaltlosigkeit betont: “Wie ein vernichtender Sieg erlangt man durch Liebe alle Siege,” könnte man das Dhammapada-Zitat umdeuten (Anger and the Path of Compassion – Jack Kornfield). Praktisch heißt das, bei Demonstrationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Achtsamkeit ist hier essenziell: In dem Moment, wo ich merke, meine Fäuste ballen sich oder ich möchte einen Beleidigung zurückschreien, genau dann bewusst ausatmen, den Boden unter den Füßen spüren und mir sagen: Gewalt erzeugt neues Leid – das will ich nicht säen. Viele Aktivistengruppen schulen sich selbst im Vorfeld dahingehend. In einigen Fällen bilden buddhistische Praktizierende auch Meditationsgruppen innerhalb von Protestbewegungen, um an Ort und Stelle Frieden auszustrahlen. Beispielsweise haben in Asien und im Westen Meditierende sich demonstrativ still hingesetzt, wenn die Stimmung kippte, um die Lage zu beruhigen. Diese Praxis zeigt Mut und kann Eskalationen verhindern. Der Benefit einer Demo schwindet nämlich, wenn sie in Hass und Chaos umschlägt – dann reproduziert sie genau das, was sie bekämpfen wollte.
Ein subtilerer Punkt ist der Verlust von Gleichmut (Upekkhā). Gleichmut meint nicht Gleichgültigkeit, sondern innere Ausgeglichenheit und Unparteilichkeit. Bei leidenschaftlichem Engagement gerät diese leicht ins Wanken. Man ist emotional aufgewühlt – was natürlich menschlich ist. Doch dauerhaftes Kämpfen an vorderster Front kann zu Burnout, Frustration oder “Verbitterung” führen, wenn Gleichmut fehlt. Ohne Gleichmut läuft Mitgefühl Gefahr, in Mitgefühlsmüdigkeit umzuschlagen, warnt ein Mönch aus Thích Nhất Hạnhs Plum Village Sangha (How Equanimity Powers Love | Plum Village). Man identifiziert sich so stark mit dem Leid der Welt, dass es einen überwältigt und ausbrennt. Hier ist wiederum Achtsamkeit gefragt: Wie viel kann ich geben, ohne selbst auszubrennen? Buddhas Weg der Mittleren Balance lehrt, weder in kalte Gleichgültigkeit noch in hysterischen Aktivismus zu verfallen. Gleichmut gibt dem Mitgefühl Stabilität – wie zwei Flügel eines Vogels brauchen wir beides. Thích Nhất Hạnh definierte Upekkhā sogar als “Inclusiveness”, als Einschließen vieler Perspektiven und Standpunkte (How Equanimity Powers Love | Plum Village). Ein Beispiel: Er wurde einmal gebeten, eine Petition gegen Abtreibung zu unterzeichnen – eine Thematik, die in sich sehr konflikthaft ist. Obwohl er persönlich das Leben achtet, verweigerte er die Unterschrift, weil ihm die Sprache der Petition zu einseitig und dogmatisch war (How Equanimity Powers Love | Plum Village) (How Equanimity Powers Love | Plum Village). Er blieb der Komplexität der Situation gerecht und wahrte so seinen Gleichmut und Mitgefühl für alle Betroffenen. Übertragen auf Demonstrationen heißt das: Offen bleiben für verschiedene Blickwinkel, sich nicht fanatisch auf eine Position versteifen, im Herzen ruhig bleiben, auch wenn um einen herum der Lärm tobt. Der “smile of the Buddha” – das rätselhafte Lächeln des Buddha angesichts der Leiden der Welt – rührt daher, dass der Buddha genug Verständnis, Ruhe und Kraft hatte, um vom Leid nicht überwältigt zu werden (How Equanimity Powers Love | Plum Village). Dieses Ideal erinnert Aktivist*innen daran, inmitten der Sturmwolken von politischem Konflikt einen ruhigen inneren Ort zu bewahren. Wenn das gelingt, kann man dem Leiden ins Gesicht lächeln, nicht aus Ignoranz, sondern weil man weiß, man hat die innere Stärke, es anzupacken, ohne daran zu zerbrechen (How Equanimity Powers Love | Plum Village).
Zusammengefasst sind Demonstrationen aus buddhistischer Sicht ein zweischneidiges Schwert. Richtig geführt – mit Mitgefühl, Gewaltlosigkeit, Weisheit und Gleichmut – sind sie segensreich und notwendig, um die Stimme des Mitgefühls in der Welt hörbar zu machen. Sie können kollektives Karma zum Positiven beeinflussen und den Übenden selbst auf dem Pfad großer Herzensöffnung voranbringen. Unachtsam geführt hingegen drohen sie, neue Feindbilder, Hass und Erschöpfung zu erzeugen. Der Schlüssel liegt im Geisteszustand der Protestierenden. Wie der Zen-Meister Hakuin sinngemäß sagte: “Die Hölle ist nicht der Ort, an den du gehst – es ist der Geisteszustand, mit dem du gehst.” Wenn wir mit hasserfülltem Geist demonstrieren, nähren wir die Hölle; demonstrieren wir mit mitfühlendem, klarem Geist, nähren wir das Mitgefühl in der Welt. Diese Unterscheidung bewusst zu halten, ist die große Herausforderung für engagierte Buddhist*innen.