Gesetz 1: Vergänglichkeit akzeptieren

Alles ist im Wandel

Erinnerst du dich an die erste Unterweisung, in der wir die alltägliche Realität von Dukkha kennengelernt haben? Dort haben wir bemerkt, dass unser Widerstand gegen das, was ist, oft die Quelle unseres Leidens bildet. In der Rechten Einsicht haben wir begonnen, die Zusammenhänge zwischen unseren Gedanken, Worten und Taten bewusster wahrzunehmen. Nun wollen wir tiefer in ein universelles Prinzip eintauchen, das uns hilft zu verstehen, warum wir so oft Widerstand empfinden: die Vergänglichkeit, auf Pali Anicca genannt.

Anna und das Festhalten am „Perfekten Moment“

Erinnern wir uns an Anna. Vielleicht hat sie gerade ein Projekt besonders erfolgreich abgeschlossen. Alle loben sie, sie fühlt sich kompetent, zufrieden und glücklich. Es ist ein „perfekter Moment“, und sie wünscht sich insgeheim, dass dieses Gefühl, diese Situation, für immer anhalten möge. Ein paar Tage später jedoch ist der Trubel vorbei, neue, vielleicht weniger angenehme Aufgaben stehen an, und das Hochgefühl ist verblasst. Anna fühlt sich vielleicht ein wenig ernüchtert oder sogar enttäuscht, dass das gute Gefühl nicht geblieben ist.

Oder denken wir an einen Streit mit ihrem Partner. In diesem Moment scheint der Konflikt unüberwindbar, die negativen Gefühle sind intensiv. Anna könnte denken: „Das wird nie wieder gut.“ Doch auch hier zeigt die Erfahrung: Nach einer Weile, nach einem Gespräch oder einfach mit etwas Abstand, verändern sich die Gefühle, und die Situation sieht oft schon anders aus.

Diese alltäglichen Beobachtungen sind direkte Beispiele für Anicca.

Anicca: Nichts bleibt, wie es ist

Die Lehre von Anicca besagt, dass alle bedingten Phänomene – also alles, was entsteht und vergeht, alles, was von Ursachen und Bedingungen abhängt – von Natur aus unbeständig und flüchtig sind. Das betrifft:

  • Unsere äußeren Umstände: Beziehungen, Besitztümer, Arbeitsstellen, Gesundheit, das Wetter, gesellschaftliche Trends.
  • Unsere inneren Zustände: Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Körperempfindungen, unsere Wahrnehmungen, ja sogar unsere Persönlichkeit und unsere Ansichten.

Es gibt nichts im Universum der bedingten Dinge, das einen festen, unveränderlichen Kern hätte. Alles ist ein Prozess, ein ständiges Fließen von Entstehen und Vergehen.

Warum ist diese Einsicht so wichtig – und oft so schwierig?

Das Erkennen der Vergänglichkeit ist fundamental, weil unser Leiden oft genau daraus entsteht, dass wir uns gegen diese natürliche Tatsache stemmen:

  • Wir haften an Angenehmem an: Wir wollen, dass gute Gefühle, schöne Momente, geliebte Menschen oder günstige Umstände für immer bleiben. Wenn sie sich dann verändern (was sie unweigerlich tun), empfinden wir Schmerz, Verlust oder Enttäuschung. Annas Wunsch, das Hochgefühl nach dem Projekterfolg festzuhalten, ist ein Beispiel dafür.
  • Wir wehren uns gegen Unangenehmes: Wir wollen, dass schlechte Gefühle, schwierige Situationen oder Schmerz sofort verschwinden. Indem wir uns dagegen sträuben, verstärken wir oft das Leiden.
  • Wir suchen Sicherheit im Unbeständigen: Wir bauen unsere Identität und unser Glück auf Dinge, die von Natur aus flüchtig sind, und sind dann erschüttert, wenn sie sich verändern.

Die Akzeptanz von Anicca kann zunächst beunruhigend wirken:

  • „Ist das nicht eine sehr pessimistische Sichtweise?“
    Es mag so scheinen, wenn man es als reinen Verlust betrachtet. Doch die Einsicht in Anicca kann auch unglaublich befreiend sein. Wenn wir verstehen, dass auch schwierige Zeiten und schmerzhafte Gefühle vergänglich sind, gibt uns die Hoffnung und die Kraft, sie durchzustehen. Es nimmt ihnen die Macht des „Für-Immer“. Zudem lehrt es uns, die gegenwärtigen guten Momente bewusster zu schätzen, gerade weil sie nicht ewig dauern.

  • „Wenn alles vergänglich ist, wozu dann noch etwas anstreben?“
    Anicca bedeutet nicht, passiv oder gleichgültig zu werden. Es bedeutet, klüger zu handeln. Wir können uns weiterhin Ziele setzen und uns engagieren, aber mit weniger Anhaftung an ein bestimmtes Ergebnis und mit mehr Flexibilität, wenn die Dinge sich anders entwickeln als geplant. Es geht darum, den Prozess zu würdigen und nicht nur das vergängliche Resultat.

Anna lernt, mit dem Fluss zu schwimmen:

Indem Anna Anicca besser versteht, könnte sie lernen:

  • Schöne Momente bewusster zu genießen, ohne krampfhaft an ihnen festzuhalten.
  • Schwierige Phasen mit dem Wissen zu durchleben, dass auch sie vorübergehen werden.
  • Weniger Energie darauf zu verwenden, Unvermeidliches kontrollieren zu wollen, und stattdessen ihre Fähigkeit zu stärken, mit Veränderungen umzugehen.
  • Pläne zu machen, aber gleichzeitig offen für Anpassungen zu bleiben, wenn das Leben andere Wege einschlägt.

Eine kleine Übung zur Beobachtung von Anicca (5-10 Minuten):

Nimm dir heute oder in den nächsten Tagen bewusst Zeit, den Wandel in verschiedenen Bereichen deines Lebens zu beobachten:

  1. In dir selbst:
    • Gedanken: Wie schnell kommen und gehen deine Gedanken? Kannst du einen Gedanken festhalten, ohne dass er sich verändert oder von einem anderen abgelöst wird?
    • Gefühle: Beobachte eine Emotion, die im Laufe des Tages auftaucht. Wie intensiv ist sie am Anfang? Verändert sie sich? Verblasst sie? Wird sie von einer anderen Emotion abgelöst?
    • Körperempfindungen: Nimm eine bestimmte Empfindung wahr (z.B. ein Kribbeln, eine Verspannung, ein Gefühl von Wärme). Bleibt sie konstant oder verändert sie sich, wenn du sie beobachtest?
  2. Um dich herum:
    • Natur: Wenn du nach draußen schaust, was hat sich seit gestern verändert? (Wetter, Pflanzen, Licht)
    • Geräusche: Welche Geräusche sind gerade da? Sind sie gleichbleibend oder verändern sie sich?

Es geht nicht darum, etwas zu bewerten, sondern einfach nur die Realität des ständigen Wandels wahrzunehmen.

Die Einsicht in Anicca ist nicht nur eine intellektuelle Übung, sondern eine Tür zu mehr Frieden und Gelassenheit.

Was würde sich in deinem Leben verändern, wenn du wirklich akzeptieren könntest, dass alles – das Angenehme wie das Unangenehme – in ständigem Wandel begriffen ist?