Wie unsere Handlungen unsere Realität formen
Nachdem wir uns mit den drei grundlegenden Daseinsmerkmalen Anicca, Dukkha und Anattā auseinandergesetzt haben, die uns helfen, die Natur der Realität tiefer zu verstehen, wenden wir uns nun einem weiteren fundamentalen Prinzip zu: Karma (Pali: Kamma). Karma bedeutet wörtlich „Handlung“ oder „Tat“ und bezieht sich auf das universelle Gesetz von Ursache und Wirkung, insbesondere in Bezug auf unsere willentlichen Handlungen. Es ist ein Konzept, das oft missverstanden wird, aber in seiner reinen Form eine enorme Kraft zur positiven Veränderung unseres Lebens birgt.
Anna und die E-Mail an den Kollegen
Stellen wir uns Anna vor. Sie ist verärgert über einen Kollegen, der ihrer Meinung nach einen Fehler gemacht hat, der ihr Projekt beeinträchtigt. In ihrer ersten emotionalen Reaktion möchte sie ihm eine scharfe E-Mail schreiben, ihm die Schuld zuweisen und ihrer Frustration Luft machen.
Möglichkeit 1 (unheilsame Absicht/Handlung): Sie schreibt und sendet die E-Mail impulsiv. Die unmittelbare Folge könnte eine kurzfristige, oberflächliche Erleichterung sein („Das musste mal gesagt werden!“). Doch wahrscheinlicher ist, dass der Kollege sich verteidigt, gekränkt ist oder ebenfalls ärgerlich reagiert. Die Arbeitsatmosphäre verschlechtert sich, das Vertrauen leidet, und das ursprüngliche Problem ist vielleicht immer noch nicht gelöst. Langfristig erzeugt diese Handlung Spannungen und möglicherweise negative Rückwirkungen für Anna selbst.
Möglichkeit 2 (heilsamere Absicht/Handlung): Anna bemerkt ihren Ärger. Sie erinnert sich vielleicht an die Vergänglichkeit von Gefühlen (Anicca) und daran, dass impulsive Reaktionen oft nicht hilfreich sind. Sie atmet tief durch, wartet einen Moment oder sogar bis zum nächsten Tag. Dann formuliert sie eine sachlichere Nachricht oder sucht das persönliche Gespräch, in dem sie ihr Anliegen ruhig darlegt, ohne Vorwürfe, vielleicht sogar mit Verständnis für mögliche Gründe des Kollegen. Die unmittelbare Folge ist vielleicht weniger „Befriedigung“ für den Ärger, aber die Wahrscheinlichkeit, dass das Problem konstruktiv gelöst wird, die Beziehung intakt bleibt oder sich sogar verbessert, ist viel höher. Langfristig fördert diese Handlung Vertrauen und eine positive Arbeitsumgebung.
Diese beiden Szenarien illustrieren, wie unsere Absichten und die daraus folgenden Handlungen unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen.
Karma: Absichtsvolles Handeln und seine Früchte
Im buddhistischen Verständnis ist Karma primär die Absicht (Cetanā) hinter einer Handlung. Es sind unsere willentlichen, absichtsvollen Taten des Körpers (was wir tun), der Rede (was wir sagen) und des Geistes (was wir denken und beabsichtigen), die karmische Spuren hinterlassen und entsprechende „Früchte“ (Vipāka) hervorbringen – entweder in diesem Leben oder in zukünftigen Existenzen (gemäß traditioneller Lehre).
- Heilsames Karma (Kusala Kamma): Handlungen, die von heilsamen Absichten wie Wohlwollen, Mitgefühl, Großzügigkeit, Ehrlichkeit und Weisheit getragen sind. Solche Taten führen tendenziell zu positiven, angenehmen Ergebnissen für uns selbst und andere.
- Unheilsames Karma (Akusala Kamma): Handlungen, die von unheilsamen Absichten wie Gier, Hass (Ärger, Abneigung), Verblendung (Ignoranz, falsche Ansichten) getragen sind. Solche Taten führen tendenziell zu negativen, leidvollen Ergebnissen für uns selbst und andere.
- Neutrales Karma: Handlungen ohne starke ethische Färbung, die entsprechend neutrale Ergebnisse haben.
Wichtige Klarstellungen zu Karma:
Karma ist kein Schicksal oder eine vorbestimmte Bestimmung. Es ist kein System von Belohnung und Strafe durch eine externe Instanz oder einen Gott.
- Karma ist dynamisch: Wir ernten nicht nur die Früchte vergangener Handlungen, sondern säen mit jeder neuen absichtsvollen Tat auch die Samen für unsere Zukunft. Das bedeutet, wir haben immer die Möglichkeit, durch unsere gegenwärtigen Entscheidungen die Richtung unseres Lebens zu beeinflussen.
- Nicht alles, was geschieht, ist Karma: Während Karma ein wichtiger Faktor ist, der unsere Erfahrungen prägt, gibt es auch andere Einflüsse wie physikalische Gesetze, biologische Prozesse, soziale und umweltbedingte Faktoren. Nicht jede Kopfschmerztablette ist die Folge einer spezifischen vergangenen Tat.
- Die Wirkung ist nicht immer sofort oder linear: Die Früchte einer Handlung können sofort, später in diesem Leben oder sogar in zukünftigen Leben reifen. Die Komplexität der Wirkungszusammenhänge ist oft nicht einfach zu durchschauen.
Die befreiende Kraft des Karma-Verständnisses:
Wenn wir Karma richtig verstehen, wird es zu einem Werkzeug der Ermächtigung:
- Verantwortung übernehmen: Wir erkennen, dass wir die Hauptverantwortung für unser Glück und Leiden tragen, da sie maßgeblich von unseren eigenen absichtsvollen Handlungen geprägt sind.
- Bewusster handeln: Wir werden uns der Motive hinter unseren Taten bewusster und können uns dafür entscheiden, heilsamere Absichten zu kultivieren.
- Geduld entwickeln: Wir verstehen, dass Veränderungen Zeit brauchen und dass nicht jede gute Tat sofort belohnt wird, aber langfristig positive Tendenzen schafft.
- Mitgefühl stärken: Wir erkennen, dass auch andere unter den Folgen ihrer (oft unbewussten) unheilsamen Handlungen leiden, was Mitgefühl fördern kann.
Anna lernt, die Samen für ihr Wohlbefinden zu säen:
Indem Anna das Prinzip von Karma versteht, kann sie:
- Innehalten, bevor sie impulsiv reagiert, und ihre Absicht überprüfen.
- Sich bewusst für Worte und Taten entscheiden, die auf Wohlwollen und Verständnis basieren, selbst wenn es schwierig ist.
- Die Auswirkungen ihrer Handlungen auf sich selbst und andere aufmerksamer beobachten und daraus lernen.
- Verantwortung für ihre Fehler übernehmen, ohne in Selbstvorwürfen zu versinken, sondern mit der Absicht, es in Zukunft besser zu machen.
Eine kleine Übung zur Beobachtung von Ursache und Wirkung:
- Rückblick auf eine kürzliche Handlung: Denke an eine Situation in den letzten Tagen, in der du gehandelt oder etwas gesagt hast, mit dem du nicht ganz zufrieden warst.
- Was war deine Absicht (auch wenn sie nur subtil war)?
- Was war die unmittelbare Folge deiner Handlung/deiner Worte?
- Welche längerfristigen Auswirkungen könnte es geben?
- Hättest du mit einer anderen Absicht anders handeln können? Wie hätte das Ergebnis aussehen können?
- Bewusste heilsame Handlung: Nimm dir für heute oder morgen vor, eine kleine, bewusste Handlung mit einer klaren heilsamen Absicht auszuführen (z.B. jemandem aufrichtig zuhören, eine kleine Freundlichkeit erweisen, geduldig sein, wo du sonst ungeduldig wärst).
- Formuliere innerlich deine Absicht.
- Führe die Handlung aus.
- Beobachte (ohne Erwartung einer großen Belohnung), wie sich die Handlung anfühlt und welche Wirkung sie auf dich und andere hat.
Das Verständnis von Karma ist eine Einladung, unser Leben aktiv und weise zu gestalten. Jede Handlung, jede Rede, jeder Gedanke ist ein Same. Wir haben die Wahl, welche Art von Garten wir kultivieren möchten.