Wenn Körper und Geist entspannen
Schön, dass du wieder da bist. In der letzten Unterweisung haben wir die aufsteigende, energetisierende Freude (Pīti) kennengelernt – jene helle, manchmal fast übersprudelnde Qualität, die uns zeigt, dass die Praxis funktioniert. Doch was passiert, nachdem diese Welle der Begeisterung ihren Höhepunkt erreicht hat? Sie mündet ganz natürlich in einen Zustand tiefer Ruhe und Entspannung. Dies ist das fünfte Erleuchtungsglied (Passaddhi-sambojjhaṅga) – ein Zustand, in dem Körper und Geist zur Stille finden und sich wirklich ausruhen können.
Anna erlebt eine neue Tiefe der Entspannung
Anna kommt nach einem besonders hektischen Arbeitstag nach Hause. Ihr Kopf brummt von all den Entscheidungen, Gesprächen und Aufgaben. Ihre Schultern sind verspannt, ihr Nacken steif. Normalerweise würde sie in diesem Zustand sofort den Fernseher einschalten oder gedankenlos durch Social Media scrollen, um sich „abzulenken“ – eine Art betäubte Flucht aus der Anspannung.
Heute entscheidet sie sich bewusst für etwas anderes. Sie macht sich eine Tasse Tee, setzt sich in einen bequemen Sessel und tut einfach… nichts. Nur sitzen. Nur atmen. Keine Ablenkung.
Zuerst bemerkt sie die gewohnte Unruhe in ihrem Geist. Die To-do-Liste des nächsten Tages taucht auf, der Drang, das Handy zu checken, das Bedürfnis, „produktiv“ zu sein. Aber sie bleibt einfach sitzen. Atmet. Lässt zu.
Und nach ein paar Minuten – vielleicht drei, vielleicht fünf – geschieht etwas Bemerkenswertes. Der innere Lärm legt sich. Die Gedanken werden langsamer, weniger dringend. Ihre Schultern sinken herab, ihr Kiefer entspannt sich. Ein Gefühl tiefer Ruhe breitet sich aus – nicht die Dumpfheit der Erschöpfung, sondern eine klare, wache Stille.
Sie sitzt einfach da, und es fühlt sich völlig ausreichend an. Keine Langeweile, kein Drang, irgendwohin zu gehen oder etwas zu tun. Nur… Ruhe. Eine tiefe, nährende Ruhe, die sich viel erholsamer anfühlt als die passive Berieselung durch Medien. Anna erkennt: Diese Stille ist eine Kraft, nicht eine Leere. Sie ist Heilung.
Die Natur der Ruhe (Passaddhi-sambojjhaṅga)
Das fünfte Erleuchtungsglied wird im Pali als Passaddhi-sambojjhaṅga bezeichnet. Passaddhi bedeutet wörtlich „Beruhigung“, „Entspannung“ oder „Stille“. Es beschreibt die tiefe Beruhigung von Körper und Geist – das Nachlassen von Anspannung, Stress und innerer Unruhe.
Der Unterschied zwischen Pīti und Passaddhi
Es ist hilfreich, den Unterschied zwischen den beiden vorangegangenen Erleuchtungsgliedern zu verstehen:
- Freude (Pīti) ist eher aktivierend, hell, manchmal fast aufregend. Sie ist wie das erste Aufblühen einer Blume, wie die Morgensonne, die aufgeht. Sie gibt Energie und Motivation.
- Ruhe (Passaddhi) ist kühlend, beruhigend, zutiefst entspannend. Sie ist wie der Schatten eines Baumes an einem heißen Tag, wie das sanfte Licht des Abends. Sie gibt Erholung und Heilung.
Beide sind notwendig. Pīti ohne Passaddhi kann zu Aufgeregtheit führen. Passaddhi ohne Pīti kann langweilig oder dumpf werden. Zusammen schaffen sie eine perfekte Balance.
Was genau entspannt sich?
Passaddhi hat zwei Aspekte:
1. Körperliche Ruhe (Kāya-passaddhi) Die Muskeln entspannen sich. Anspannungen, die wir oft gar nicht bemerken – in den Schultern, im Kiefer, um die Augen herum, im Bauch – lösen sich. Der Atem wird natürlich, tief und ruhig. Der Körper fühlt sich leicht an, manchmal fast durchsichtig. Es ist, als würde eine Last von dir genommen.
2. Geistige Ruhe (Citta-passaddhi) Die rastlose Aktivität des Geistes kommt zur Ruhe. Die ständigen Gedanken, Pläne, Sorgen, Kommentare – all das wird leiser. Der Geist ist nicht leer, aber er ist still. Es ist wie ein See, dessen Wellen sich legen und der spiegelglatt wird.
Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig. Wenn der Körper sich entspannt, entspannt sich auch der Geist. Wenn der Geist zur Ruhe kommt, entspannt sich auch der Körper.
Das Gegenmittel zu Unruhe
Passaddhi ist das direkte Gegenmittel zum Hindernis der Unruhe und Sorge (Uddhacca-kukkucca). Wo Unruhe den Geist hin und her wirft, bringt Ruhe Stabilität. Wo Sorge den Geist quält, bringt Ruhe Frieden. Es ist wie ein Balsam für den gestressten, überreizten Geist unserer modernen Zeit.
„Ist diese Ruhe nicht einfach nur ein schläfriger Zustand? Ich nicke in der Meditation manchmal ein.“
Das ist ein häufiges und wichtiges Missverständnis. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Dumpfheit der Trägheit (Thīna-middha) und der klaren Ruhe von Passaddhi:
Trägheit/Dumpfheit:
- Der Geist ist neblig, unklar, träge
- Das Bewusstsein wird schwächer, dumpfer
- Du verlierst die Achtsamkeit
- Es führt zum Einnicken, zum Wegdämmern
- Es ist ein Hindernis
Ruhe/Passaddhi:
- Der Geist ist klar, hell, wach
- Das Bewusstsein ist scharf und präsent
- Die Achtsamkeit bleibt erhalten oder wird sogar stärker
- Du bist entspannt, aber vollständig da
- Es ist ein Erleuchtungsglied
Der Unterschied liegt in der Qualität der Wachheit. Wenn du in Passaddhi bist, bist du zutiefst entspannt, aber gleichzeitig vollständig präsent. Du könntest jederzeit reagieren, wenn nötig. Du nimmst wahr, was um dich herum geschieht. Der Geist ist wie ein klarer, stiller See – ruhig, aber durchsichtig.
Wenn du einnickst, hat das Hindernis der Trägheit die Oberhand gewonnen. Dann ist es wichtig, die Energie zu erhöhen (siehe U24) – aufstehen, die Augen öffnen, frische Luft, Bewegung.
„Wie kann ich diesen Zustand erreichen? Ich fühle mich meistens angespannt.“
Das ist verständlich, besonders in unserer chronisch gestressten Gesellschaft. Aber hier ist die gute Nachricht und gleichzeitig die Herausforderung: Passaddhi ist, genau wie die Freude, nichts, was du direkt „machen“ oder erzwingen kannst. Es ist eine Frucht, die unter den richtigen Bedingungen von selbst wächst.
Die Bedingungen für Passaddhi sind:
- Achtsamkeit: Die dich das Anspannen und Loslassen bemerken lässt
- Das Loslassen der Hindernisse: Besonders von Gier, Aversion und Unruhe
- Freude: Oft mündet Pīti ganz natürlich in Passaddhi
- Die Erlaubnis, nichts tun zu müssen: Der Verzicht auf Kontrolle
Du kannst diese Bedingungen schaffen, aber die Ruhe selbst entsteht dann von allein. Es ist wie beim Einschlafen – je mehr du versuchst einzuschlafen, desto wacher bleibst du. Aber wenn du die richtigen Bedingungen schaffst (dunkles Zimmer, bequemes Bett, Ruhe), kommt der Schlaf von selbst.
Indem du lernst, die Hindernisse loszulassen und einfach zu erlauben, was ist, schaffst du die Voraussetzungen für diese tiefe Entspannung. Sie ist ein Geschenk der Praxis, kein Ziel, das man erobern kann.
„Ist diese Ruhe nicht nur eine Flucht vor der Realität?“
Eine berechtigte Frage. Nein, es ist keine Flucht. Der Unterschied ist:
Flucht (wie passives TV-Schauen oder Substanzen) betäubt dich, macht dich weniger präsent, vermeidet das Problem, schafft oft neue Probleme.
Passaddhi macht dich klarer, präsenter, entspannter UND bewusster. Du bist voll da, aber ohne die Anspannung. Wenn du aus dieser Ruhe in den Alltag zurückkehrst, bist du gestärkt, nicht geschwächt. Du kannst Probleme besser lösen, weil dein Geist klar ist.
Es ist der Unterschied zwischen Vermeidung und echter Erholung.
Eine kleine Übung zur Einladung von Ruhe (fünf bis zehn Minuten):
Diese Übung kann helfen, die Bedingungen zu schaffen, unter denen Körper und Geist sich beruhigen können.
Schritt 1: Den Körper systematisch durchatmen
Setze oder lege dich bequem hin. Schließe die Augen. Nimm ein paar tiefe Atemzüge. Dann lenke deine Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Körperteile. Mit jeder Ausatmung lädst du diese Region ein, sich zu entspannen:
- Füße: Atme ein. Beim Ausatmen: „Füße, entspannt euch.“
- Beine: Atme ein. Beim Ausatmen: „Beine, entspannt euch.“
- Becken und Bauch: Lass den Bauch weich werden.
- Brust und Rücken: Lass die Schultern sinken.
- Arme und Hände: Lass alle Spannung fließen.
- Nacken und Gesicht: Besonders Kiefer, Augen, Stirn.
Du versuchst nicht, die Entspannung zu erzwingen. Du lädst sie nur ein.
Schritt 2: Spannung bewusst loslassen
Jetzt mache etwas Paradoxes: Spanne bewusst eine Muskelgruppe an. Zum Beispiel:
- Ziehe die Schultern zu den Ohren hoch. Halte für 3-5 Sekunden.
- Dann lasse sie mit einem tiefen Ausatmen plötzlich los.
- Spüre den Unterschied. Fühle die Entspannung.
Wiederhole das mit 2-3 Körperbereichen:
- Gesicht (zusammenkneifen, dann loslassen)
- Hände (zu Fäusten ballen, dann öffnen)
- Bauch (anspannen, dann weich werden lassen)
Durch das bewusste Anspannen wird das Loslassen deutlicher spürbar.
Schritt 3: Im Gefühl der Ruhe verweilen
Jetzt tu einfach… nichts. Sitze oder liege einfach da. Atme natürlich. Wenn du einen Zustand von auch nur leichter Entspannung spürst – ein weiches Gefühl, eine Lockerheit, eine Stille – verweile einfach für ein paar Momente dabei.
Du musst nichts tun, nichts erreichen, nirgendwo hingehen. Erlaube dir, für diese wenigen Minuten vollkommen zweckfrei zu sein. Genieße dieses Gefühl der Ruhe, ohne es festhalten zu wollen.
Wenn Gedanken kommen („Ich sollte…“), lächle innerlich und kehre zurück zur Empfindung der Entspannung.
Indem du dem Körper erlaubst, sich zu entspannen, gibst du auch dem Geist die Erlaubnis, zur Ruhe zu kommen. Welche Anspannungen – vielleicht ganz subtile – kannst du gerade in diesem Moment in deinem Körper entdecken und mit deinem Atem sanft loslassen?
Serienanschluss: Wenn der Geist zur Ruhe gekommen ist und sich von Anspannung und Unruhe befreit hat, wird er empfänglich für den nächsten Schritt: die stabile und mühelose Ausrichtung auf ein Objekt. Das ist das sechste Erleuchtungsglied, die Sammlung.
