Beschreibung der Traditionen
Im Anschluss an die Übersicht folgt nun für jede der genannten Traditionen eine ausführliche Beschreibung. Dabei werden Besonderheiten der Lehre und Praxisformen sowie etwaige Herausforderungen oder Kontroversen näher beleuchtet.
Theravāda-Buddhismus (südliche Schule)
Herkunft & Hintergrund: Theravāda („Lehre der Ältesten“) gilt als die älteste erhaltene buddhistische Schulrichtung. Sie beruft sich auf den Pāli-Kanon, der auf die Lehrreden Siddhartha Gautamas (des historischen Buddha) zurückgehen soll. Historisch entwickelte sich Theravāda aus der Sthavira-Nikāya Tradition und wurde in Sri Lanka heimisch, von wo aus er sich über Birma, Thailand, Laos und Kambodscha verbreitete. Diese Länder sind bis heute von Theravāda geprägt. Bereits im 19. Jahrhundert entdeckten europäische Gelehrte die Pāli-Schriften; der deutsche Indologe Karl Eugen Neumann übersetzte große Teile des Kanons ins Deutsche (Buddhismus in Deutschland – Wikipedia). In Deutschland wurde der Theravāda ab Ende des 19. Jh. durch Personen wie Arthur Schopenhauer gedanklich vorbereitet und durch Pioniere wie Anton Gueth (Nyanatiloka), Paul Dahlke und Georg Grimm praktisch eingeführt (Buddhismus in Deutschland – Wikipedia). Paul Dahlke gründete 1924 in Berlin-Frohnau „Das Buddhistische Haus“, das als erster buddhistischer Tempel Europas gilt (Das Buddhistische Haus – Wikipedia). Nach dem 2. Weltkrieg entstanden in Westdeutschland die ersten Theravāda-Gruppen; 1955 wurde der „Deutsche Buddhisten-Bund“ als Dachverband ins Leben gerufen (Serie: Buddhismus in Deutschland – Der Weg zu mehr Ruhe, Klarheit und Gelassenheit). Ab den 1970er Jahren trugen auch Einwanderer aus buddhistischen Ländern zur Verbreitung bei – insbesondere die thailändische Gemeinde, die bis heute mit Dutzenden Tempeln die größte asiatisch-buddhistische Community in Deutschland stellt (Buddhismus in Deutschland – Wikipedia).
Lehre & Praxis: Im Theravāda steht die Vier Edlen Wahrheiten und der Edle Achtfache Pfad im Zentrum der Lehre. Die Befreiung vom Leiden (dukkha) wird als Nirvāna (Nibbāna) erreicht, meist nach vielen Wiedergeburten als Arhat. Im Unterschied zum Mahāyāna gibt es kein Bodhisattva-Ideal, sondern das Streben jedes Einzelnen, ein Heiliger (Arhat) zu werden. Die Praxis betont Sittlichkeit (Sīla), Konzentration (Samādhi) und Weisheit (Paññā). In der traditionellen Vermittlung spielen buddhistische Mönche eine tragende Rolle: Sie verbringen Jahre im Kloster, erlernen Rezitationen und Auslegung der Pāli-Suttas und fungieren dann als Lehrer für die Laiengemeinde. Vermittelt wird Wissen vor allem durch Vorträge (Dhammadesana) und persönliches Beispiel. Laien praktizieren hauptsächlich Dāna (Geben, z.B. Almosengaben an Mönche) und halten die Fünf Silas (ethische Grundregeln). Meditation wurde in Asien lange primär im Kloster gepflegt; seit dem 20. Jh. ist sie aber auch für Laien verbreitet (Vipassana-Bewegung, siehe unten). Theravāda-Gläubige lesen zudem Sutrentexte (z.B. Dhammapada) in Übersetzung und verehren Buddha-Statuen mit Blumen und Kerzen. Rituale spielen im Volks-Theravāda durchaus eine Rolle – z.B. Schutzsegen chanten, Amulette segnen, Geister beschwichtigen – allerdings gelten solche Bräuche den Gelehrten als „Beiwerk“ und wurden von Reformern oft abgelehnt ().
Spiritualität und Mystik: Der Theravāda-Buddhismus wird im Westen oft als relativ nüchtern und philosophisch wahrgenommen (). Tatsächlich betonen viele moderne Theravāda-Lehrer die Vereinbarkeit von Buddhas Lehre mit rationaler Wissenschaft und meiden übernatürliche Themen. Dennoch kennt auch Theravāda die klassischen buddhistischen Vorstellungen von Wiedergeburt in verschiedenen Daseinsbereichen, Karma als Ursache-Wirkungs-Gesetz und das Wirken unsichtbarer Wesen (Devas, Pretas etc.). In der Praxis konzentriert man sich aber eher auf persönliche Befreiungserfahrung durch Meditation und Erkenntnis. Mystische Erlebnisse wie Jhāna-Trancen oder meditative Visionen werden zwar beschrieben, aber nicht als Ziel an sich angestrebt, sondern allenfalls als Nebeneffekt der Schulung. Das Ideal ist ein durch Einsicht erlangter entpersonalisierter Frieden des Nirvāna. Insgesamt kann man sagen: Theravāda legt mehr Gewicht auf Ethik und Erkenntnis als auf mystische Rituale.
Präsenz in Deutschland: In Deutschland ist Theravāda vor allem auf zwei Wegen präsent: durch die asiatischen Diaspora-Gemeinden und durch deutschsprachige Konvertiten-Gruppen. Die Thai-Buddhisten stellen die größte Gruppe: zum Jahresende 2015 gab es 48 thailändische Wats (Tempelklöster) im Bundesgebiet (Buddhismus in Deutschland – Wikipedia) – hier praktizieren größtenteils Thais, aber auch einige deutsche Buddhisten nehmen an Meditationen oder Festen (z.B. Vesakh) teil. Daneben bestehen sri-lankische Viharas (etwa in Berlin, München) und vietnamesische Tempel, die teils ebenfalls der Theravāda-Tradition folgen. Für deutschstämmige Praktizierende gibt es Zentren wie das Buddha-Haus (Allgäu) – gegründet von Ayya Khema –, das Waldkloster Muttodaya (bei Würzburg), oder kleinere Vipassana-Gruppen in vielen Städten. Die Deutsche Buddhistische Union (DBU) hat etliche Theravāda-Gruppen als Mitglieder. Obwohl exakte Zahlen fehlen, kann geschätzt werden, dass von den ca. 250.000–300.000 Buddhisten in Deutschland (Serie: Buddhismus in Deutschland – Der Weg zu mehr Ruhe, Klarheit und Gelassenheit) ein erheblicher Anteil dem Theravāda zuzurechnen ist – insbesondere alle ethnischen Thai-, Khmer-, Lao- und die meisten Vietnamesisch-Buddhisten, sowie ein Teil der westlichen Buddhisten. Theravāda gehört somit neben Zen, tibetischem Buddhismus und Nichiren-Buddhismus zu den meistpraktizierten Richtungen hierzulande (Buddhismus in Deutschland – Wikipedia).
Herausforderungen & Auffälligkeiten: Im deutschen Theravāda gab es bislang keine größeren Skandale oder öffentlichen Affären um Lehrer. Die buddhistischen Mönche aus Asien, welche die Gemeinden betreuen, halten sich meist streng an die Ordensregeln (Vinaya) und leben relativ zurückgezogen. Gelegentlich kommt es zu kulturellen Spannungen – z.B. wenn europäische Buddhisten eine moderne, egalitäre Auffassung haben, während asiatische Tempel sehr hierarchisch-traditionell funktionieren. Auch die Sprachbarriere (Pāli-Begriffe, Thai/Vietnamesisch im Tempel) kann die Vermittlung erschweren. Inhaltlich steht Theravāda manchmal in der Kritik, „zu konservativ“ zu sein – etwa in Fragen der Ordination von Frauen (Bhikkhuni-Ordination ist in Thailand bis heute umstritten). In Deutschland werden solche Themen jedoch offen diskutiert, z.B. durch die DBU-Arbeitsgruppe „Buddhismus und Geschlechtergerechtigkeit“, was zeigt, dass auch im Theravāda Wandel möglich ist. Insgesamt wird die Theravāda-Tradition in Deutschland für ihre authentische Lehre und Disziplin geschätzt; die klare Ausrichtung auf Meditation (insbesondere Vipassana) und die relative Freiheit von Skandalen haben ihr ein solides Ansehen verschafft.