Buddhistische Traditionen in Deutschland

Engagierter Buddhismus (Thích Nhất Hạnh / Plum Village)

Herkunft & Hintergrund: Engagierter Buddhismus (Vietnam. „Đạo Phật Nhập Thế“ – „Buddhismus, der in die Welt eintritt“) ist keine eigene Schulrichtung, sondern eine Bewegung innerhalb verschiedener Schulen, die den Fokus auf gesellschaftliche Verantwortung und aktive Mitgestaltung legt. Geprägt wurde der Begriff maßgeblich von Thích Nhất Hạnh (1926–2022), einem vietnamesischen Zen-Mönch. In den 1960er-Jahren, während des Vietnamkriegs, standen buddhistische Mönche vor der Frage: Sollen wir nur im Kloster meditieren, oder uns um Frieden und Leid in der Welt kümmern? Thích Nhất Hạnh und Kollegen wie Bhikkhu Thich Quang Do riefen dazu auf, den Buddhismus praktisch einzusetzen – in Friedensbewegung, Bildungsarbeit, sozialen Projekten. TNH prägte den Terminus „Engagierter Buddhismus“ (vietnamesisch „Nhập Thế“) für diesen Ansatz.

Nach seiner erzwungenen Exilierung (1966, er sprach in den USA und wurde von Nord wie Süd Vietnam als unliebsam betrachtet) ließ sich Thích Nhất Hạnh in Frankreich nieder. Er gründete 1982 das Landkommune-Kloster Plum Village (Làng Mai) bei Bordeaux, das zum Zentrum einer internationalen Gemeinschaft wurde. Dort entwickelte er eine einzigartige Mischung aus Zen-Buddhismus, Achtsamkeitspraxis und angewandter Ethik, die weltweit viele Anhänger fand. Es entstanden Schwesterklöster u.a. in den USA (Deer Park), Thailand und eben Deutschland (EIAB).

Lehre & Praxis: Thích Nhất Hạnhs Lehre vereinfacht Zen und Mahayana-Grundsätze in eine sanfte, poetische Sprache. Im Vordergrund steht das Leben in Achtsamkeit (mindfulness). Konkrete Praxisformen:

  • Achtsames Atmen und Gehen: Bei jeder Gelegenheit zum Atem zurückkehren, bewusst jeden Schritt setzen. Es gibt das berühmte Gedicht beim Händewaschen oder Glocke der Achtsamkeit – alltägliche Momente werden mit kleinen Versen verbunden, die einen ins Hier und Jetzt holen.
  • Gemeinschaftsübungen: Z.B. beim Essen herrscht Stille, um den Geschmack voll zu erleben und Dankbarkeit für die Nahrung zu entwickeln. Beim „Dharma-Tee“ sitzt man zusammen und trinkt schweigend Tee als Meditation. Es gibt beginning anew-Rituale zum Neuanfang nach Konflikten, achtsames Zuhören und Sprechen in Konfliktlösung.
  • Meditation im Sitzen und Gehen: Natürlich wird auch formal meditiert, aber oft etwas kürzer und zugänglicher als in strengen Zen-Dojo. Eine Sitzmeditation kann 20-30 Min gehen, oft geleitet durch sanfte Worte. Gehmeditation wird gerne in der Natur gemacht („friedvoll wie ein Tiger im Dschungel“).
  • Sangha-Aktivitäten: Die Gemeinschaft (Sangha) ist zentraler Teil der Praxis. Es gibt regelmäßige Dharma sharing-Kreise, wo jeder von seinen Erfahrungen berichtet (achtsames Sprechen / Zuhören als Übung). Alle tragen zur Harmonie der Gruppe bei – dies wird als Teil der eigenen spirituellen Entwicklung gesehen.
  • Ethik und Mindfulness Trainings: Thích Nhất Hạnh formulierte die Fünf Achtsamkeitsübungen neu – eine modernisierte Version der Fünf Silas, inkl. bewussten Konsumverzichts, achtsamer Kommunikation, Umgang mit Sexualität etc. Mitglieder der Laien-Orden (Intersein-Orden) geloben diese einzuhalten. Dadurch wird Ethik konkret und im Alltag verankert.
  • Engagement: TNH inspirierte viele Projekte: z.B. Hilfsprogramme in Vietnam (Schulen, Wiederaufforstung), Friedensdemos, Meditation in Gefängnissen, Achtsamkeit in Schulen. Er selbst gründete 1964 die „School of Youth for Social Service“ in Saigon, eine Art buddhistische Caritas mit 10.000 Freiwilligen, die in Kriegszeiten Dörfer wieder aufbaute und Flüchtlingen half – dies als Vorbild aller späteren „engaged Buddhism“-Projekte.

Spirituelle Ausrichtung: Engagierter Buddhismus legt Wert darauf, dass Erwachen und Handeln Hand in Hand gehen. TNH lehrte die Intersein-Philosophie (Interbeing) – dass alles mit allem verbunden ist. Daraus folgt, dass man nicht wirklich glücklich werden kann, solange andere leiden; Mitgefühl drängt zur Aktion. Gleichzeitig betont er, dass Aktion ohne innere Ruhe wirkungslos ist. Darum die Kombination: Meditation & Aktion als zwei Beine eines Menschen.

Die Mystik tritt hier in den Hintergrund. TNH sprach zwar über tiefe Einsichten (z.B. er erklärte Leerheit mit dem Bild einer Wolke im Papier – alles durchdringt einander), aber seine Betonung lag auf dem Wunder des Alltags. Wer völlig präsent ist beim Abwasch, berührt schon das Wunder des Lebens – so seine Lehre.

Engagierter Buddhismus in Deutschland: Schon in den 1980ern kamen TNH und seine Schülerinnen (z.B. Sr. Chân Không) nach Deutschland für Vorträge. Einige Deutsche traten dem Intersein-Orden bei. 1992 gründeten die Schüler Helga und Karl Riedl in Bayern das „Intersein-Zentrum“, ein Achtsamkeitszentrum nach Plum-Village-Tradition. 2008 wurde in Waldbröl (NRW) das Europäische Institut für Angewandten Buddhismus (EIAB) eröffnet – ein großes Kloster- und Seminarzentrum mit über 20 Mönchen/Nonnen (European Institute of Applied Buddhism | Achtsamkeit: Kurse … – Eiab). Von dort aus werden Kurse und Workshops zu vielfältigen Themen angeboten (z.B. achtsames Sterben, Achtsamkeit in der Pflege, Yoga und Zen etc.).

Es gibt deutschlandweit Dutzende Laien-Sanghas, die sich wöchentlich treffen (teils in Kirchenräumen, Yogastudios oder privat). Diese Haus-Sanghas tragen oft Namen wie „Quelle des Mitgefühls Sangha XY“. Sie orientieren sich an Thích Nhất Hạnhs Büchern (wie „Aus Angst wird Mut“, „Das Wunder der Achtsamkeit“) und praktizieren in seinem Geiste.

Wirksamkeit in der Gesellschaft: Engagierter Buddhismus hat in DE und weltweit viele Impulse geliefert: Die Integration von Achtsamkeit in Psychotherapie und Bildung verdankt sich teilweise TNH’s Pionierarbeit, auch wenn MBSR eher von Kabat-Zinn kam, hat TNH bereits in den 1970ern ähnlich gearbeitet. Der Friedens- und Umweltaspekt: Viele buddhistische Gruppen engagieren sich heute in Klimaschutz (z.B. die buddhistische „Earth Holder“-Bewegung), das geht auf engaged Buddhism zurück.

Herausforderungen: Diese Bewegung hatte glücklicherweise keine Skandalprobleme mit Lehrern – Thích Nhất Hạnh lebte absolut ethisch, und seine senior Schüler sind meist ähnlich respektiert. Herausforderungen sind eher organisatorischer Natur: Nach TNH’s Tod 2022 müssen die Klöster und Sanghas eigenständig weitermachen. Es gibt ein internationales Netzwerk (die Plum Village Community of Engaged Buddhism), welches aber relativ dezentral ist.

Engagierter Buddhismus muss auch aufpassen, nicht in Aktivismus ohne Kontemplation oder umgekehrt abzudriften. Die Balance zu halten ist ein steter Lernprozess: Einige Mitglieder sind super engagiert sozial, aber drohen auszubrennen – dann muss wieder mehr Innenschau betont werden. Andere sind viel im inneren Frieden, aber scheuen den Gang auf die Straße – da wird ermutigt, sich doch einzubringen.

In Deutschland speziell ist eine Hürde, dass „Buddhismus und Engagement“ für manche immer noch ungewohnt klingt. Buddhisten galten lange als Rückgezogene, jetzt stehen sie mit „Meditation für den Frieden“ plötzlich doch in der Öffentlichkeit. Aber das Bild ändert sich: man denke an die Demo „Die offene Hand“ von Buddhisten 2018 in Berlin, die gegen Hass und Rassismus ein Zeichen setzte – initiiert u.a. von TNH-Schülern.

Zusammenfassung: Engagierter Buddhismus, wie ihn Thích Nhất Hạnh verkörpert hat, stellt eine Verbindung von innerer Transformation und äußerem Wandel dar. In Deutschland findet er zunehmend Resonanz, gerade bei Menschen, die nach Sinn und gleichzeitig Gemeinschaft suchen. Die Kombination aus Spiritualität, Ethik und Engagement entspricht dem Bedürfnis vieler, Spiritualität nicht losgelöst vom Weltgeschehen zu leben. In einer Zeit von Klimakrise, sozialer Ungerechtigkeit und Stress bietet der Engaged Buddhism einen Weg, aktiv zu sein, aber aus einer Quelle von Frieden und Mitgefühl heraus – ein Angebot, das wahrscheinlich noch relevanter wird.


Schlussbemerkung: Die buddhistische Landschaft in Deutschland ist vielfältig und dynamisch. Von traditionellen klösterlichen Ansätzen bis zu modernen Laienbewegungen spannt sich ein breites Spektrum. Jede Tradition – ob Theravāda, Zen, Vajrayāna, Nichiren, neu entstandene westliche Wege oder engagierte Ansätze – trägt besondere Kostbarkeiten bei, hat aber auch ihre eigenen Herausforderungen. Ein aufgeklärter Buddhismus im Westen kann daraus lernen: die Weisheit der Alten zu bewahren und gleichzeitig neue Wege zu gehen, wo es nötig ist, um den Dharma lebendig, relevant und ethisch rein zu halten. Die obige Übersicht soll helfen, die verschiedenen Wege nebeneinander zu verstehen und ihre jeweiligen Besonderheiten und Lehren wertzuschätzen, ebenso aber aufmerksam zu sein für Muster, die sich in jeder Gemeinschaft zeigen können – denn letztlich bleiben es Menschen, die den Buddhismus ausüben, mit all ihren Stärken und Schwächen. Durch Austausch und Achtsamkeit können die Traditionen voneinander lernen und gemeinsam dazu beitragen, dass der Dharma in Deutschland weiter gedeiht.

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