7. Praktischer Teil: Anleitung zur kontemplativen Praxis von Wahrnehmung und Geist
In diesem Abschnitt findest du konkrete Übungen, um die Konstruktion der Wahrnehmung selbst zu untersuchen. Es sind Anleitungen, die du im Sitzen in Meditation durchführen kannst, sowie Impulse für den Alltag (etwa in Form von Journaling-Fragen). Nimm dir Zeit, diese Übungen auszuprobieren. Wichtig ist eine freundliche, neugierige Haltung – es gibt hier kein Richtig oder Falsch, nur ein Erforschen deines eigenen Erlebens.
7.1 Meditation: Achtsamkeit auf Gefühle und Geist
Diese Meditation gliedert sich in zwei Phasen. Zunächst wirst du den Bereich der Körpergefühle und Empfindungen erkunden. Anschließend richtest du deine Achtsamkeit auf Gedanken und Geisteszustände. Du kannst jede Phase für sich üben, jeweils etwa 10 bis 15 Minuten, oder beide nacheinander als eine längere Sitzung gestalten.
Phase 1 – Gefühle im Körper wahrnehmen (Betrachtung der Gefühle):
Ankommen und Körper spüren: Setze dich in eine bequeme, aufrechte Haltung. Schließe die Augen oder senke den Blick. Nimm ein paar tiefe Atemzüge und fühle den Kontakt deines Körpers mit dem Sitzkissen oder Stuhl. Erlaube dir, im Hier und Jetzt anzukommen. Spüre einen Moment lang den ganzen Körper von Kopf bis Fuß, einfach als ein Feld von Empfindungen.
Atem als Anker: Lenke nun die Aufmerksamkeit auf deinen Atem. Spüre für zwei bis drei Minuten den natürlichen Fluss des Atems, wie er ein- und ausströmt. Wo fühlst du den Atem am deutlichsten? Vielleicht an den Nasenflügeln, im Brustkorb oder im Bauch. Nutze den Atem als Anker, um deinen Geist zu sammeln. Jedes Mal, wenn du merkst, dass deine Gedanken abschweifen, kehre sanft zum Atemgefühl zurück.
Körperempfindungen abscannen: Erweitere nun dein Gewahrsein schrittweise auf den ganzen Körper. Wandere mit deiner Aufmerksamkeit durch verschiedene Zonen: Kopf, Gesicht, Nacken, Schultern, Arme, Hände, Rumpf, Beine und Füße. Verweile kurz an jeder Stelle und fühle, was da ist. Registriere die verschiedenen Empfindungen, wie zum Beispiel Druck, Wärme, Kribbeln, Verspannung, Leichtigkeit oder Pulsieren. Versuche, jede Empfindung direkt zu spüren, ohne sie gleich zu bewerten. Wenn eine Stelle sich neutral anfühlt, nimm auch das „Fehlen markanter Empfindung“ bewusst wahr.
Gefühlston erkennen: Wann immer du auf eine deutlich angenehme oder unangenehme Empfindung triffst, benenne sie innerlich ganz schlicht: „angenehm“, „unangenehm“ oder „neutral“, falls keines von beiden zutrifft. Spürst du beispielsweise Wärme an den Händen, frage dich: Ist das angenehm, unangenehm oder neutral? Ist es angenehm, nenne es innerlich „angenehm“. Bemerkst du einen Druck im unteren Rücken, der vielleicht leicht unangenehm ist, nenne es innerlich „unangenehm“. Bleibe aber nur beim Benennen des grundlegenden Gefühlstons, ohne in Geschichten abzuschweifen, wie etwa „Oh nein, mein Rücken schon wieder…“. Lass die Empfindung einfach da sein und beobachte, wie sie sich vielleicht verändert. Du kannst dir auch sagen: „Es ist okay, dass da Unangenehmes ist; ich brauche es nicht sofort zu ändern.“
Offenes Gewahrsein für auftauchende Gefühle: Lass nun deinen Körper ganz natürlich weiter atmen und sitze einfach mit offenem Gewahrsein. Achte darauf, wenn irgendein Gefühlston auftaucht. Dies kann durch einen Körperreiz geschehen (plötzlich juckt es irgendwo – unangenehm), durch einen Klang (eine ferne Musik – angenehm?) oder sogar durch einen Gedanken (die Erinnerung an etwas – vielleicht angenehm, vielleicht nicht). Jedes Mal, wenn du einen Gefühlswert bemerkst, benenne ihn kurz: „angenehm“, „unangenehm“ oder „neutral“. Versuche dann, nichts weiter damit zu tun. Klammere dich weder ans Angenehme, noch stoße das Unangenehme weg. Nimm es einfach wahr und lass es im Feld deiner Aufmerksamkeit weiterziehen. Bleibe verankert im Körper und im Atem, während Gefühle kommen und gehen. Stell dir vor, dein Gewahrsein ist wie ein weiter Himmel und die Empfindungen sind Wolken, die erscheinen und vorüberziehen.
Abschluss der ersten Phase: Bevor du zur nächsten Phase übergehst, atme tief ein und aus. Vielleicht magst du dir leise sagen: „Möge ich die Empfindungen des Körpers so sehen können, wie sie sind – als vorübergehende Erfahrungen. Möge ich in angenehmen wie unangenehmen Empfindungen im Gleichgewicht bleiben.“ Dies setzt eine Intention von Gleichmut.
Phase 2 – Gedanken und Geisteszustände beobachten (Betrachtung des Geistes):
Übergang: Nachdem du den Körper und die Gefühlstöne beobachtet hast, richte die Aufmerksamkeit nun explizit auf den Geist selbst – also auf den Raum der Gedanken, Bilder und Emotionen. Du kannst dir vorstellen, du sitzt jetzt vor der „Bühne des Geistes“ und der Vorhang öffnet sich.
Gedankenstrom wahrnehmen: Nimm dir ein paar Momente Zeit, um wahrzunehmen, ob Gedanken da sind. Falls dein Geist gerade relativ still ist, genieße diese Stille – Gedanken werden von allein wieder auftauchen, dann kannst du weiterüben. Wenn bereits Gedanken präsent sind, dann schau sie dir an, wie ein unbeteiligter Beobachter. Welche Art von Gedanken kommt? Es könnten Pläne sein („nachher muss ich noch…“), Erinnerungen („gestern sagte sie…“), Kommentare („ich hoffe, ich mache das richtig“), Urteile („das gefällt mir nicht“) oder Tagträume. Versuche, die Gedanken kurz mit einem Label zu versehen, ohne dich darin zu verlieren. Taucht beispielsweise der Gedanke auf „Ich muss später einkaufen“, benenne ihn innerlich als „Planen“. Flackert ein Bild aus der Kindheit auf, nenne es „Erinnerung“. Bemerkst du eine innere Leier wie „Ich bin nicht gut genug“, bezeichne sie als „Selbsturteil“. Halte dich nicht lange an den Inhalten auf, sondern konzentriere dich darauf, die Kategorie oder Qualität des Gedankens zu erkennen.
Gefühlszustand benennen: Achte auch auf den Stimmungszustand deines Geistes. Frage dich: Wie ist der Geist gerade? Ist er ruhelos, angespannt, müde, klar, freudig, gereizt oder gelassen? Was auch immer du vorfindest, benenne es wohlwollend, zum Beispiel: „Ungeduld da“, „Geist müde“, „friedvoll“ oder „frustriert“. Versuche, nicht „Ich bin…“ zu sagen, sondern wirklich zu sehen: Das ist ein Zustand, der kommt und geht, nicht deine feste Identität – genau wie Wolken am Himmel. Wenn du zum Beispiel Gereiztheit spürst, benenne vielleicht „ärgerlicher Geist“ anstatt „ich bin wütend“. Spüre den Unterschied, den diese Wortwahl macht; meist eröffnet sie sofort etwas Abstand.
Alles darf da sein, in Raum gehalten: Übe dich nun darin, allen auftauchenden geistigen Phänomenen mit Akzeptanz zu begegnen. Ob es schöne, wohltuende Gedanken sind oder lästige, quälende – schau, ob du alle nur als „Erscheinungen im Geist“ betrachten kannst. Falls schwierige Emotionen wie Ärger, Angst oder Traurigkeit auftauchen, könntest du das Benennen mit etwas herzlicher Zusprache kombinieren: „Da ist Traurigkeit… es ist okay, sie darf sein.“ Stell dir vor, du hältst den ganzen Strom an Gedanken und Gefühlen in einem weiten, sanften Gewahrsein, so wie eine Mutter ein unruhiges Kind liebevoll hält.
Nicht-Identifikation üben: Erinnere dich immer wieder daran: Beobachte den Geist als Geist. Wenn dich ein Gedanke wegzieht, bemerke es, benenne ihn („abschweifen“, „denken“) und komme zurück in die Rolle des Beobachters. Wenn starke Ich-Gedanken kommen („Ich kann das nicht“, „Mir ist langweilig“ etc.), versuche probeweise, die Ich-Worte loszulassen. Was bleibt übrig? Vielleicht ein Gefühl im Körper, vielleicht einfach nur Energie. Erkenne: Gedanken sind Ereignisse, nicht wer du bist.
Abschluss: Lasse zum Ende hin alle Labels fallen und sitze noch ein bis zwei Minuten in stillem Gewahrsein, in dem du nichts Besonderes mehr tun musst. Nimm einfach wahr, was da ist – sei es Atem, Körpergefühl oder Stille im Geist – ohne es zu benennen. Genieße diesen Zustand des reinen Beobachtens. Beende dann die Meditation, indem du tief ein- und ausatmest, die Augen öffnest und dir einen Moment Zeit gibst, dich wieder dem Außen zuzuwenden. Wertschätze es, dass du dir diese Zeit genommen hast.
graph TD A["<b>Meditationsübung: Achtsamkeit auf Gefühle und Geist</b>"] --> Phase1_Titel subgraph Phase1_Titel ["1: Betrachtung Gefühle"] direction TB P1_1["Ankommen & Körper spüren"] P1_2["Atem als Anker"] P1_3["Körperempfindungen abscannen<br/>(Druck, Wärme, Kribbeln etc.)"] P1_4["<b>Gefühlston erkennen & benennen:</b><br/>'Angenehm', 'Unangenehm', 'Neutral'<br/>(Ohne Geschichten, nur der rohe Ton)"] P1_5["Offenes Gewahrsein für auftauchende Gefühlstöne<br/>(Körper, Klänge, Gedanken)"] P1_6["Abschluss Phase 1<br/>(Intention von Gleichmut)"] P1_1 --> P1_2 --> P1_3 --> P1_4 --> P1_5 --> P1_6 end Phase1_Titel -- Übergang --> Phase2_Titel subgraph Phase2_Titel ["2: Betrachtung Geistes"] direction TB P2_1["Übergang: Fokus auf den Geist"] P2_2["Gedankenstrom wahrnehmen & kategorisieren<br/>(z.B. 'Planen', 'Erinnerung', 'Selbsturteil')"] P2_3["<b>Gefühls-/Stimmungszustand des Geistes benennen:</b><br/>(z.B. 'Ungeduld da', 'Geist müde', 'Friedvoll')<br/>('Da ist X' statt 'Ich bin X')"] P2_4["Allen geistigen Phänomenen mit Akzeptanz begegnen"] P2_5["Nicht-Identifikation üben<br/>(Gedanken sind Ereignisse, nicht wer du bist)"] P2_6["Abschluss: Stilles Gewahrsein"] P2_1 --> P2_2 --> P2_3 --> P2_4 --> P2_5 --> P2_6 end %% Styling style A fill:#e1f5fe,stroke:#0277bd,stroke-width:2px,font-weight:bold style Phase1_Titel fill:#e8f5e9,stroke:#2e7d32,stroke-width:1.5px,labelStyle:'font-weight:bold;fill:#dcedc8' style P1_1 fill:#ffffff,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px style P1_2 fill:#ffffff,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px style P1_3 fill:#ffffff,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px style P1_4 fill:#c8e6c9,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px,font-weight:bold style P1_5 fill:#ffffff,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px style P1_6 fill:#ffffff,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px style Phase2_Titel fill:#fff9c4,stroke:#fbc02d,stroke-width:1.5px,labelStyle:'font-weight:bold;fill:#fffde7' style P2_1 fill:#ffffff,stroke:#fbc02d,stroke-width:1px style P2_2 fill:#ffffff,stroke:#fbc02d,stroke-width:1px style P2_3 fill:#fffde7,stroke:#fbc02d,stroke-width:1px,font-weight:bold style P2_4 fill:#ffffff,stroke:#fbc02d,stroke-width:1px style P2_5 fill:#ffffff,stroke:#fbc02d,stroke-width:1px style P2_6 fill:#ffffff,stroke:#fbc02d,stroke-width:1px
Schlüsselbegriffe aus dem Pāli in diesem Kapitel:
- Vedanānupassanā: Die Betrachtung oder Achtsamkeit auf die Gefühle; eine der vier Grundlagen der Achtsamkeit. (Hier als „Phase 1 – Gefühle im Körper wahrnehmen (Betrachtung der Gefühle)“ bezeichnet)
- Cittānupassanā: Die Betrachtung oder Achtsamkeit auf den Geist(eszustand); eine der vier Grundlagen der Achtsamkeit. (Hier als „Phase 2 – Gedanken und Geisteszustände beobachten (Betrachtung des Geistes)“ bezeichnet)
- Vedanā: Gefühl oder Empfindung, die als angenehm, unangenehm oder neutral erfahren wird. (Bezieht sich auf die „Körpergefühle und Empfindungen“ in Phase 1)
- Citta: Geist, Bewusstsein, Geisteszustand. (Bezieht sich auf „Gedanken und Geisteszustände“ in Phase 2)
- Upekkhā: Gleichmut; eine ausgeglichene, nicht-reaktive Haltung gegenüber Erfahrungen. (Wird am Ende von Phase 1 als Intention erwähnt)