Wahrnehmung verstehen: Buddhismus, Neurowissenschaft & Achtsamkeit

5. Achtsamkeit als Unterbrechung des Stroms: Neurowissenschaftliche Effekte und die Praxis der Grundlagen der Achtsamkeit

Wir erinnern uns an den eingangs beschriebenen Strom: Vom Sinneskontakt über Gefühl und Wahrnehmung schießt es oft blitzartig zu Reaktion und Verstrickung. Die Achtsamkeit kann man sich bildlich wie einen Fels in diesem Strom vorstellen – einen Fels, der den Fluss der Gewohnheitsreaktionen unterbrechen kann. Aber was bedeutet das konkret?

Aus neurowissenschaftlicher Sicht sorgt Achtsamkeit dafür, dass die höheren Kontroll- und Bewertungszentren im Gehirn bewusst eingeschaltet werden, anstatt im Autopiloten zu fahren. Insbesondere aktiviert Achtsamkeit den präfrontalen Cortex (PFC). Diese Region hinter der Stirn ist für bewusstes Steuern, Innehalten und das Regulieren von Impulsen zuständig. Gleichzeitig wird die Alarmzentrale des Gehirns – die Amygdala – beruhigt. Studien zeigen beispielsweise, dass schon das einfache mentale Benennen einer Emotion, wie etwa zu denken „Ich spüre Ärger“, die Reaktion der Amygdala deutlich senken kann. In einer bekannten Untersuchung betrachteten Probanden Bilder emotionaler Gesichter. Sie sollten entweder die Emotion benennen oder den Gesichtern ein einfaches Label, wie einen Namen, zuordnen. Das Ergebnis war, dass das bewusste Etikettieren der Emotion, zum Beispiel als „Angry“ (wütend), zu einer geringeren Aktivität der Amygdala führte, als wenn nur ein Name angeheftet wurde. Die Forscher beschrieben es so: Wenn wir Gefühle in Worte fassen, treten wir innerlich auf die Bremse unserer emotionalen Reaktion. Dabei wurde der rechte ventrolaterale PFC aktiv – ein Bereich, der mit dem Verbalisieren emotionaler Erfahrungen und der Verhaltenshemmung assoziiert wird. Mit anderen Worten: Achtsamkeit, hier in Form von präzisem Benennen des Erlebten, stärkt die übergeordneten Gehirnfunktionen, die unsere rohen Impulse zügeln.

Auch langfristig lassen sich Effekte nachweisen. Regelmäßige Achtsamkeitsmeditation scheint die Stressreaktivität des Gehirns zu verringern. In Hirnscans zeigen Meditierende eine geringere Aktivität der Amygdala bei negativen Reizen. Gleichzeitig ist bei ihnen die Kopplung zwischen Amygdala und präfrontalem Cortex stärker, was auf eine bessere Emotionsregulation hindeutet. Diese Fähigkeit, Emotionen bewusster zu begegnen und ihre Intensität zu modulieren, hängt eng mit Prozessen der Emotionsregulation zusammen. Eine wichtige Strategie hierbei ist das sogenannte Reappraisal oder die Neubewertung. Dabei lernen wir, die Bedeutung einer potenziell emotional aufladenden Situation so umzuinterpretieren, dass ihre emotionale Wirkung abgeschwächt wird. Anstatt beispielsweise eine kritische Bemerkung sofort als persönlichen Angriff zu werten (erste, automatische Bewertung), kann Achtsamkeit den mentalen Raum schaffen, sie als Ausdruck der Unsicherheit des anderen oder als missverständliche Kommunikation zu sehen (Neubewertung). Studien deuten darauf hin, dass der durch Achtsamkeit gestärkte präfrontale Kortex an solchen Neubewertungsprozessen maßgeblich beteiligt ist und so hilft, die Amygdala-Reaktion herunterzuregulieren. Eine Studie fand beispielsweise heraus, dass Menschen mit einer höheren, als Persönlichkeitseigenschaft ausgeprägten Achtsamkeit („trait mindfulness“) während des Etikettierens negativer Bilder mehr Aktivität im PFC und weniger Aktivität in der Amygdala aufwiesen. Das bedeutet, achtsame Personen nutzen offenbar spontan mehr vernunftorientierte Netzwerke, einschließlich der Fähigkeit zur Neubewertung, und haben einen gedämpfteren Alarm im limbischen System, sobald sie etwas Emotionales wahrnehmen. Dies könnte erklären, warum Achtsamkeit die emotionale Reaktivität generell senkt: Man ist dann eher fähig, einen Reiz zunächst nur zu beobachten und neu zu bewerten, ohne sofort von Gefühlen überschwemmt zu werden.

Die zuvor beschriebenen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse – die Stärkung der präfrontalen Kontrolle und die Fähigkeit zur Neubewertung emotionaler Reize – liefern eine plausible Erklärung dafür, wie Achtsamkeit auf erfahrungsbezogener Ebene, buddhistisch gesprochen, einen Raum zwischen Gefühl und Reaktion schaffen kann. Indem wir zum Beispiel eine unangenehme Empfindung im Körper achtsam beobachten – ohne gleich zu denken „Aua, ich will das weg haben!“ – durchbrechen wir die Kettenreaktion vom Gefühlserleben zum Begehren oder zur Aversion. Wir erleben dann vielleicht immer noch den Schmerz, aber wir fügen keinen zweiten Pfeil des Leidens hinzu. Der Buddha illustriert dies im Sallatha Sutta (Das Pfeil-Sutta, SN 36.6) sehr schön: Ein unachtsamer, unweiser Mensch, „vom Schmerz getroffen, sorgt und jammert und verzweifelt… so erfährt er zwei Schmerzen, einen körperlichen und einen geistigen – wie von zwei Pfeilen getroffen“. Ein geübter Schüler hingegen, „wenn von Schmerz berührt, sorgt und jammert nicht…, er erfährt nur einen Schmerz: den körperlichen, aber nicht den geistigen“. Achtsamkeit bewirkt genau diese Verschiebung. Der erste „Pfeil“ – die initiale Empfindung – mag unvermeidbar sein, sei es Krankheit, körperlicher Schmerz oder ein unangenehmer Ton. Doch wir schießen uns nicht den zweiten Pfeil hinterher, indem wir mental leiden, hadern oder uns in Gedanken verstricken.

Die Praxis der vier Grundlagen der Achtsamkeit zielt darauf ab, solche Unterbrechungen schrittweise zur Gewohnheit zu machen. Zwei der vier Grundlagen sind hier besonders relevant: die Betrachtung der Gefühle und die Betrachtung des Geisteszustands. Ersteres meint, im Alltag und in der Meditation ständig gewahr zu sein: „Was fühle ich gerade? Angenehm, unangenehm oder neutral?“ Man lernt, Gefühle direkt als Gefühle wahrzunehmen und ihre Qualitäten zu erforschen, ohne sofort in Geschichten darüber abzudriften. Die Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit (MN 10) instruiert zum Beispiel, ein Mönch solle genau erkennen: „Empfindet er eine angenehme Empfindung, weiß er: ‚Ich empfinde eine angenehme.‘… Empfindet er eine weltliche angenehme Empfindung, so weiß er das; empfindet er eine geistig überweltliche angenehme Empfindung, so weiß er das…“. Diese Übung schult den Geist darin, beim rohen Gefühlston zu bleiben, ohne sofort Reaktionen wie „weil es angenehm ist, will ich mehr davon“ oder „igitt, weg damit“ anzuhängen. Man spürt beispielsweise eine Verspannung und registriert: „unangenehme Empfindung im Schulterbereich“ – Punkt. Keine weitere Bewertung. Das schafft einen kritischen Moment der Freiheit: Der alte Impuls, etwa Schmerz mit Ärger oder Widerstand zu beantworten, wird durchbrochen.

Die Betrachtung des Geisteszustands geht einen Schritt weiter. Hier übt man, den Zustand des eigenen Geistes im Hier und Jetzt zu erkennen, wiederum ohne sich damit zu identifizieren. Man stellt beispielsweise fest: „Da ist ein ärgerlicher Geist“ oder „Geist voller Gier ist anwesend“ oder auch „Geist ohne Gier, ruhig, gesammelt ist anwesend“. Man beschriftet sozusagen den eigenen Geisteszustand aus einer Meta-Perspektive. Auch das hat nachweislich einen heilsamen Effekt, denn es erzeugt Metakognition: Der Geist nimmt sich selbst wahr, was unmittelbar Abstand zu impulsiven Gedanken und Emotionen schafft. Ein meditierender Angestellter etwa, der kurz vor einer Präsentation steht, mag plötzlich Lampenfieber spüren. Mit geübter Betrachtung des Geisteszustands merkt er: „Ah, da ist Angst im Geist“, anstatt unbewusst in Panik zu verfallen. Dieses Benennen (Englisch: labeling) der Angst reorganisiert die Hirnaktivität – wie oben beschrieben wird der PFC aktiv und die Amygdala gedrosselt. Man fühlt sich dadurch oft sofort etwas ruhiger und klarer, weil man nicht mehr in der Angst gefangen ist, sondern sie von außen betrachtet.

Interessant ist, dass solche achtsamen Unterbrechungen des Reiz-Reaktions-Stroms nicht passiv bleiben. Über die Zeit formen sie neue Gewohnheitsmuster im Gehirn. Psychologen sprechen von erhöhter Desidentifikation und kognitiver Flexibilität. Achtsamkeitstraining, wie zum Beispiel MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction nach Jon Kabat-Zinn), zeigt in Studien, dass Teilnehmer weniger impulsiv auf stressvolle Stimuli reagieren und schneller ihre Aufmerksamkeit umlenken können, wenn negative Gedanken auftauchen. In einer Untersuchung verbesserte schon ein kurzes Achtsamkeitsprogramm die Emotionsverarbeitung: Die Probanden zeigten nach sieben Tagen Meditation eine geringere emotionale Intensität (sie bewerteten Bilder weniger extrem), eine schnellere Beruhigung bei emotionalen Gedächtnisaufgaben und einen geringeren Aufmerksamkeits-Bias auf negative Reize. Das heißt, der Strom der Wahrnehmung wurde insgesamt ruhiger und durchsichtiger. Anstatt sofort bei einem Reiz „anzubeißen“, blieb man gelassener und konnte bewusster wählen, worauf man die Aufmerksamkeit richtet.

Diese Fähigkeiten des Nicht-Reagierens und des bewussten Antwortens anstelle von reflexhaftem Reagieren sind auch Kernziele in der modernen Psychotherapie. Therapieformen wie ACT (Acceptance and Commitment Therapy) lehren Klienten explizit, einen Schritt zurückzutreten und Gedanken sowie Empfindungen nur zu beobachten, statt unmittelbar danach zu handeln. Man spricht dort von „Defusion“: die Verschmelzung mit Gedanken aufzulösen. Das bedeutet beispielsweise zu erkennen „Ich habe gerade den Gedanken, nicht gut genug zu sein“, anstatt blind zu glauben „Ich bin nicht gut genug“. Auch dies ist letztlich Achtsamkeit in Aktion und unterbricht den Teufelskreis, in dem negative Wahrnehmungen sofort das Selbstwertgefühl angreifen und bestimmte Verhaltensmuster auslösen.

Zusammengefasst wirkt Achtsamkeit wie ein Puffer oder eine Pause-Taste im Wahrnehmungsprozess. Neurowissenschaftlich wird dies als Stärkung der präfrontalen Kontrolle (also klare Präsenz und kühle Übersicht) und als Dämpfung emotionaler Überreaktionen (eine beruhigte Amygdala und geringere Ausschüttung von Stresshormonen) sichtbar. Im Erleben zeigt es sich als ein Raum von Ruhe und Wahlmöglichkeit: Zwischen dem, was passiert, und dem, was wir als nächstes tun, öffnet sich ein Spalt. Und in diesem Spalt kann Weisheit einfließen – die Einsicht, was in diesem Moment wirklich hilfreich und heilsam ist.

Im nächsten Abschnitt werden wir diese Thematik der Vertiefung und Befreiung weiterführen: Was passiert, wenn wir Wahrnehmungen noch grundsätzlicher hinterfragen? Wenn wir bewusst aufhören, ständig alles zu benennen und als „mein Erlebnis“ zu verbuchen? Hier betreten wir das Feld der tieferen Kontemplation, in der es um Nicht-Anhaftung und Einsicht in die Natur der Erfahrung geht.

graph TD
    A0["Reiz/<br/>Sinneskontakt"] --> ProzessGabelung;

    ProzessGabelung -- Ohne Achtsamkeit --> Automatischer_Prozess_Start;
    subgraph Automatischer_Prozess ["Reiz-Reaktions-Strom"]
        direction TB
        Automatischer_Prozess_Start["Gefühl<br/>(Angenehm/Unangenehm/Neutral)"] --> AP2["Wahrnehmung/<br/>Automatische Bewertung"]
        AP2 --> AP3["Unbewusste Reaktion/<br/>Verstrickung<br/>(z.B. Gier, Ablehnung, Grübeln)"]
        AP3 --> AP_Ergebnis["Leidvolle Erfahrung /<br/>Verstärkung von Mustern"]
    end

    ProzessGabelung -- Mit Achtsamkeit --> Achtsamkeit_Intervention;
    Achtsamkeit_Intervention["<b>Achtsamkeit als Unterbrechung</b><br/>(Metapher: Fels im Strom / Pause-Taste)"] --> Achtsamer_Prozess_Start;
    
    subgraph Achtsamer_Prozess ["Bewusster Prozess"]
        direction TB
        Achtsamer_Prozess_Start["<b>Bewusstes Wahrnehmen</b><br/>(Beobachten ohne sofortiges Urteil)"] --> AP_PFC_Amygdala;
        
        subgraph AP_PFC_Amygdala ["Neuronale Korrelate"]
            direction TB
            AP_PFC["<b>Aktivierung Präfrontaler Cortex (PFC)</b><br/>- Bewusste Steuerung, Impulskontrolle<br/>- Fähigkeit zur Neubewertung"]
            AP_Amygdala["<b>Beruhigung der Amygdala</b><br/>(Reduktion emotionaler Reaktivität)"]
        end
        AP_PFC_Amygdala --> AP_Reaktion["<b>Bewusste Antwort /<br/>Weisere Reaktion</b><br/>(Statt automatischer Verstrickung)"]
        AP_Reaktion --> AP_Ergebnis_Achtsam["Größere Gelassenheit /<br/>Flexibilität /<br/>Weniger Leiden"]
    end
    
    style A0 fill:#e3f2fd,stroke:#333,stroke-width:2px
    style ProzessGabelung fill:#fafafa,stroke:#333,stroke-width:1px,shape:hexagon
    style Achtsamkeit_Intervention fill:#c8e6c9,stroke:#2e7d32,stroke-width:2px,font-weight:bold

    style Automatischer_Prozess fill:#ffebee,stroke:#c62828,stroke-width:1.5px
    style Automatischer_Prozess_Start fill:#ffcdd2,stroke:#c62828,stroke-width:1px
    style AP2 fill:#ffcdd2,stroke:#c62828,stroke-width:1px
    style AP3 fill:#ef9a9a,stroke:#c62828,stroke-width:1px
    style AP_Ergebnis fill:#ef9a9a,stroke:#c62828,stroke-width:1px,font-style:italic
    
    style Achtsamer_Prozess fill:#e8f5e9,stroke:#2e7d32,stroke-width:1.5px
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    style AP_PFC_Amygdala fill:#f1f8e9,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px
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    style AP_Ergebnis_Achtsam fill:#81c784,stroke:#2e7d32,stroke-width:1px,font-style:italic

Schlüsselbegriffe aus dem Pāli in diesem Kapitel:

  • Sati: Achtsamkeit; das bewusste, nicht-wertende Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks.
  • Vedanā: Gefühl oder Empfindung, die als angenehm, unangenehm oder neutral erfahren wird.
  • Taṇhā: Begehren, Durst, Gier; die Ursache des Leidens, die oft aus dem Gefühl (Vedanā) in Verbindung mit Nicht-Achtsamkeit entsteht.
  • Satipaṭṭhāna: Die vier Grundlagen oder Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit: Achtsamkeit auf den Körper, auf die Gefühle, auf den Geist und auf die Geistobjekte (Phänomene).
  • Vedanānupassanā: Die Betrachtung oder Achtsamkeit auf die Gefühle; eine der vier Grundlagen der Achtsamkeit.
  • Cittānupassanā: Die Betrachtung oder Achtsamkeit auf den Geist(eszustand); eine der vier Grundlagen der Achtsamkeit.

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