Wahrnehmung verstehen: Buddhismus, Neurowissenschaft & Achtsamkeit

3. Moderne psychologische Perspektive: Reizverarbeitung, affektives Priming, Bewertung und Gedächtnis

Die kognitive Psychologie und Neurowissenschaft bieten eine eigene Beschreibung dafür, wie Wahrnehmung konstruiert wird. Auch hier beginnt alles mit einem Stimulus – einem Reiz, der auf unsere Sinne trifft. Doch zwischen dem physikalischen Reiz, wie beispielsweise Lichtwellen auf der Netzhaut oder Schallwellen im Ohr, und dem, was wir letztlich erleben, liegen mehrere Verarbeitungsstufen. Der Prozess ist komplex, lässt sich aber vereinfacht wie folgt skizzieren:

(a) Frühphase der Verarbeitung: Sobald ein Reiz eintrifft, verarbeitet das Gehirn ihn auf verschiedenen Ebenen. Bereits unterbewusst findet eine grobe Einordnung statt: Ist dieser Reiz wichtig? Könnte er gefährlich oder belohnend sein? Diese Phase wird in der Psychologie als affektives Priming bezeichnet – ein unbewusstes emotionales „Vorfärben“ der Wahrnehmung. Noch bevor wir bewusst erkannt haben, was da ist, hat das limbische System, insbesondere die Amygdala, Blitz-Analysen durchgeführt. Man könnte es sich vorstellen wie innere Ausrufe: „Achtung, das könnte ein bedrohliches Gesicht sein!“ oder „Oh, das klingt angenehm vertraut.“ Dieses sogenannte „Low Road“ Processing geschieht in Bruchteilen von Sekunden. Es entspricht in gewisser Weise dem buddhistisch beschriebenen Gefühlserleben, jener ersten spontanen Regung von „mag ich / mag ich nicht“. Studien zeigen, dass die Amygdala auf emotionale Reize manchmal sogar ohne bewusste Wahrnehmung reagiert. Werden beispielsweise ängstliche Gesichter so kurz eingeblendet, dass man sie nicht bewusst sehen kann, springt die Amygdala dennoch an. Das Gehirn markiert den Reiz also affektiv, noch bevor der bewusste Verstand eingesetzt hat.

(b) Bewertung und Konzeptualisierung: In Millisekundenbruchteilen folgt die kognitive Bewertung, bei der höhere Hirnregionen, vor allem im Kortex, die Führung übernehmen. Informationen werden zum sensorischen Kortex geleitet, beispielsweise zur Sehrinde, wo Grundmuster wie Form, Farbe und Bewegung erkannt werden. Anschließend werden diese Daten an Assoziationsareale weitergereicht, die sie mit gespeicherten Mustern im Gedächtnis abgleichen. Hier findet das moderne Pendant zur buddhistischen Wahrnehmung als Erkennen statt: Das Gehirn erkennt den Reiz als etwas Bekanntes oder ordnet ihn zumindest einer bekannten Kategorie zu. Wir identifizieren dann: „Das ist ein Gesicht“ und vielleicht „das ist der Gesichtsausdruck Ärger“. Dieser Prozess beruht stark auf dem Gedächtnisabruf, bei dem unser Gehirn Vergleichserfahrungen heranzieht. Wir erinnern uns, meist unbewusst: „Eine ähnliche Miene habe ich bei Person X gesehen – das bedeutete Ablehnung.“ So fließen Erinnerungen in die aktuelle Wahrnehmung ein. Wahrnehmung ist also rekonstruktiv: Das Gehirn errät aktiv, was die Sinnesreize bedeuten, basierend auf vergangenen Erfahrungen und dem aktuellen Kontext. Ein einflussreiches Modell, das diese aktive, rekonstruktive Natur der Wahrnehmung beschreibt, ist das des Predictive Processing (vorhersagende Verarbeitung). Diesem Modell zufolge generiert das Gehirn ständig Vorhersagen über die wahrscheinlichen Ursachen von Sinneseindrücken und gleicht diese mit den tatsächlich eintreffenden Daten ab. Diskrepanzen zwischen Vorhersage und Realität führen dann zu einer Anpassung der Vorhersagen oder der Wahrnehmung selbst. Neurowissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang auch von Top-Down-Verarbeitung. Damit sind höhere Gehirnprozesse wie Erwartungen, Wissen und Stimmung gemeint, die maßgeblich beeinflussen, wie wir eingehende Signale interpretieren und welche Vorhersagen unser Gehirn trifft. Ein populäres Beispiel hierfür sind optische Täuschungen: Wir „sehen“ oft Dinge, die so nicht da sind, weil unser Gehirn die Lücken mit den wahrscheinlichsten Informationen füllt, basierend auf seinen internen Modellen und Vorhersagen. Ein Schatten im Wald wird in der Dämmerung vielleicht als Tier wahrgenommen, obwohl es nur ein Baumstumpf ist – die Erwartung einer möglichen Gefahr (eine starke Vorhersage) formt hier die Wahrnehmung.

Während dieser Bewertungsphase geben wir den Dingen auch unbewusst und unmittelbar Bedeutung und Namen. Das entspricht dem mentalen Benennen: „Ah, das ist dieses, das kenne ich, das bedeutet jenes.“ Psychologisch könnte man sagen, das Gehirn erstellt eine Art Gedankenblase oder ein mentales Modell dessen, was gerade geschieht. Dies geht einher mit einer sofortigen Bewertung: gut, schlecht, nützlich, hinderlich, schön, hässlich, meins, nicht meins und so weiter. Diese Wertungen basieren teils auf biologischer Veranlagung (ein lauter Knall erzeugt Schreck), teils auf Konditionierung (ein bestimmter Ton signalisiert die Pausenklingel und löst Freude aus). Interessanterweise aktiviert allein schon die Benennung eines Objekts bestimmte neuronale Netzwerke, zum Beispiel Sprachareale, und schafft damit eine stärkere Präsenz des Objekts in unserem Bewusstsein. Einen Klang als „Wort“ zu erkennen, ruft ganz andere Reaktionen hervor, als ihn bloß als Geräusch zu hören.

(c) Gedächtnis und Bedeutungsabruf: Ein oft unterschätzter Aspekt der Wahrnehmung ist, wie stark unser autobiographisches Gedächtnis beteiligt ist. Sobald wir etwas erkennen, werden – meist subtil – Erinnerungen wach: frühere Begegnungen mit ähnlichen Reizen sowie die Emotionen und Geschichten, die wir damit verbinden. Diese Erinnerungen fluten unmerklich in den Moment ein und färben ihn. Sie bestimmen beispielsweise, dass der Geruch von Zimt für eine Person sofort mit dem Bild von Großmutters Küche und einem Wohlgefühl einhergeht, während er für jemand anderen neutral bleibt. Dieser Speicherabruf geschieht unbewusst, prägt aber maßgeblich die subjektive Bedeutung des Wahrgenommenen. In der Psychologie nennt man dies Schemata oder Assoziationen, die unsere Wahrnehmung steuern. Wenn wir etwa einmal von einem Hund gebissen wurden, springen bei der Wahrnehmung eines ähnlichen Hundes sofort die alten Gefühlsmuster an – unser Körper empfindet möglicherweise leichte Angst, noch bevor wir bewusst denken: „Hunde könnten gefährlich sein.“

Zusammenfassend zeigt die moderne Perspektive also: Wahrnehmung ist ein aktiver, kreativer Akt des Geistes. Wir sind keine Kamera, die objektiv die Welt filmt. Vielmehr gleichen wir einem Regisseur, der das eingehende „Filmmaterial“ sofort schneidet, vertont und interpretiert. Die Reizverarbeitung geschieht dabei in Stufen – von unbewussten affektiven Markierungen bis hin zu bewussten Bewertungen und Bedeutungszuschreibungen. Unser Gedächtnis liefert dabei ständig die Hintergründe, Kulissen und Drehbücher, nach denen wir die jeweilige Szene einordnen.

Diese Erkenntnis deckt sich erstaunlich gut mit der buddhistischen Beschreibung der Prozesskette, die vom Kontakt über Gefühl und Wahrnehmung bis hin zum anfänglichen Denken und der mentalen Ausschmückung reicht. Moderne Begriffe wie „affektives Priming“ für das Gefühlserleben und „kognitive Bewertung mit Gedächtnisabruf“ für die Wahrnehmung als Erkennen und das anfängliche Denken, benennen letztlich denselben Ablauf mit einer anderen Sprache. Es gibt jedoch einen kleinen, aber wichtigen Unterschied: Der Buddhismus diskutiert den Prozess vor allem im Hinblick auf Leiden oder Befreiung – zum Beispiel, wie aus dem Gefühlserleben Gier entstehen kann, die zu Leiden führt. Die Psychologie hingegen betont eher die mechanistische Seite, also wie neuronale Netzwerke Reize verarbeiten. Doch auch die Psychologie kennt den praktischen Nutzen dieser Erkenntnisse: Wir wissen heute, dass diese automatischen Bewertungsprozesse nicht in Stein gemeißelt sind. Man kann sie trainieren und verändern. Und genau hier trifft sich die Wissenschaft wieder mit dem Dharma: Achtsamkeit – das bewusste, nicht wertende Gewahrsein des Augenblicks – hat sich als ein wirksames Mittel herausgestellt, um die automatische Reizverarbeitung zu verändern. Dazu gleich mehr. Zuvor richten wir den Blick auf einen weiteren wichtigen Aspekt: Wie entsteht aus all dem der Eindruck eines “Selbst”? Oder anders gefragt – wo bin “Ich” in diesem Prozess?

graph TD
    A["<b>Stimulus/Reiz</b><br/>(z.B. visuell, auditiv)"] --> B{"<b>Frühphase der Verarbeitung</b><br/>(Unbewusst, schnell)"};
    B --> B1["Affektives Priming<br/>(Emotionale 'Vorfärbung')<br/><i>Limbisches System, Amygdala ('Low Road')</i>"];
    
    B1 --> C{"<b>Kognitive Bewertung & Konzeptualisierung</b><br/>(Bewusster, langsamer)"};
    C --> C1["Sensorischer Kortex<br/>(Erkennung von Grundmustern:<br/>Form, Farbe, Bewegung)"];
    C1 --> C2["Assoziationsareale & Präfrontaler Kortex ('High Road')<br/>Abgleich mit Gedächtnis,<br/>Erkennen, Kategorisieren, Benennen"];
    
    C2 --> SubEinfluss;
    subgraph SubEinfluss ["Einflussfaktoren auf Kognitive Bewertung"]
        direction TB
        M["Autobiographisches Gedächtnis<br/>(Schemata, frühere Erfahrungen,<br/>assoziierte Emotionen)"]
        P["Predictive Processing<br/>(Gehirn generiert Vorhersagen<br/>& gleicht mit Input ab)"]
        T["Top-Down-Prozesse<br/>(Erwartungen, Wissen, Stimmung,<br/>Kontext)"]
    end
    
    SubEinfluss --> D["<b>Resultierende Wahrnehmung</b><br/>(Bedeutungszuschreibung,<br/>subjektives Erleben)"];
    D --> E["<b>Mögliche Reaktion</b><br/>(Gedanken, Gefühle, Verhalten)"];

    style A fill:#cceeff,stroke:#333,stroke-width:2px
    style B fill:#fffacd,stroke:#333,stroke-width:2px
    style B1 fill:#fffacd,stroke:#333,stroke-width:1px,font-style:italic
    style C fill:#e6ffe6,stroke:#333,stroke-width:2px
    style C1 fill:#e6ffe6,stroke:#333,stroke-width:1px
    style C2 fill:#e6ffe6,stroke:#333,stroke-width:1px
    style D fill:#ffccdd,stroke:#333,stroke-width:2px
    style E fill:#ffebcc,stroke:#333,stroke-width:2px
    style SubEinfluss fill:#f0f0f0,stroke:#a9a9a9,stroke-width:1px
    style M fill:#f5f5f5,stroke:#333,stroke-width:1px
    style P fill:#f5f5f5,stroke:#333,stroke-width:1px
    style T fill:#f5f5f5,stroke:#333,stroke-width:1px

Schlüsselbegriffe aus dem Pāli in diesem Kapitel:

  • Vedanā: Gefühl oder Empfindung, die als angenehm, unangenehm oder neutral erfahren wird und unmittelbar aus dem Kontakt entsteht. (Entsprechung zum Konzept des affektiven Primings in der Frühphase der Reizverarbeitung)
  • Saññā: Wahrnehmung; der mentale Prozess des Erkennens, Etikettierens und Bedeutungsgebens eines Eindrucks. (Entsprechung zur kognitiven Bewertung und Konzeptualisierung, bei der Reize erkannt und kategorisiert werden)
  • Vitakka: Anfängliches Denken, gerichtetes Denken; das erste Anwenden des Geistes auf ein Objekt. (Teil des Prozesses nach der unmittelbaren Wahrnehmung, der in der kognitiven Bewertung mit Gedächtnisabruf einfließt)
  • Papañca: Mentale Proliferation, konzeptuelle Ausbreitung oder Ausschmückung; die Tendenz des Geistes, Erfahrungen mit zusätzlichen Gedanken, Geschichten und Assoziationen zu überlagern. (Folgt auf das anfängliche Denken)
  • Phassa: Kontakt oder Berührung zwischen einem Sinnesorgan, einem Sinnesobjekt und dem entsprechenden Bewusstsein. (Der Ausgangspunkt der gesamten Wahrnehmungskette)

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