Veganismus und Vegetarismus im Buddhismus

Einleitung

Buddhistische Ethik betont Gewaltlosigkeit (ahiṃsā) und Mitgefühl mit allen Lebewesen. Dennoch bestehen in den verschiedenen Traditionen des Buddhismus unterschiedliche Auffassungen darüber, ob eine vegetarische oder vegane Ernährungsweise geboten ist. Historisch war der Umgang mit Fleischkonsum von pragmatischen Regeln geprägt, während im Laufe der Zeit – insbesondere im Mahāyāna – ethisch-spirituelle Ideale einer fleischlosen Ernährung betont wurden. Im Folgenden wird detailliert untersucht, wie Veganismus und Vegetarismus im Buddhismus gesehen werden – vom frühen Buddhismus über Theravāda, Mahāyāna bis Vajrayāna – mit Fokus auf ethische und spirituelle Aspekte. Dabei werden zentrale Lehren des Buddha, Kommentare und Interpretationen von Gelehrten sowie aktuelle Entwicklungen in buddhistischen Gemeinschaften weltweit beleuchtet.

Historischer Hintergrund: Buddha und das frühe Sangha

Der historische Buddha Gautama machte den Verzicht auf Fleisch nicht zur Bedingung für die Ausübung seiner Lehre. Laut Pāli-Kanon akzeptierten der Buddha und seine Mönche Fleisch als Almosen, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt waren. So heißt es: „Mönche, ich erlaube euch Fisch und Fleisch, die in dreifacher Hinsicht rein sind: wenn sie nicht gesehen, gehört oder vermutet wurden, eigens für einen Mönch getötet worden zu sein“ (Special Interest – Urban Dharma). Mit anderen Worten durften Bhikkhus Fleisch annehmen, wenn sie weder Zeuge der Tötung waren noch Grund zur Annahme hatten, dass das Tier speziell für sie geschlachtet worden war (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). Fleisch, das diesen Kriterien entsprach, galt als „reines“ Fleisch (ti-koṭi-parisuddha) und sein Verzehr wurde nicht als Verstoß gegen die Vorschriften gewertet.

Diese pragmatische Regel hing mit der Lebensweise der Mönche zusammen: Wandermönche lebten von Almosen und sollten dankbar alles annehmen, was Laien ihnen gaben (Meat-eating). Wählerisch zu sein oder Nahrung abzulehnen, hätte gegen die Übung der Genügsamkeit und Nicht-Anhaftung verstoßen (Vegetarianism in Buddhism – page 1 – General Buddhism – dorjeshugden.com). Wichtig war jedoch stets das erste Gebot, kein Lebewesen zu töten oder töten zu lassen. Die Übernahme bereits vorhandener Speisen, ohne ein Tier eigens dafür zu töten, wurde daher als ethisch vertretbarer Kompromiss angesehen (Are All Buddhists Vegetarian?). So lehnte der Buddha auch den Vorschlag seines Cousins Devadatta ab, allen Ordinierten strikten Vegetarismus vorzuschreiben. Devadatta versuchte gegen Lebensende des Buddha, durch strengere Regeln Anhänger hinter sich zu scharen, und forderte ein generelles Fleischverbot für Mönche (Ajahn Brahmavamso – What the Buddha say about eating meat). Der Buddha wies dies zurück und bekräftigte nochmals die bestehende Regel: Mönche und Nonnen dürfen Fleisch essen, solange es nicht von verbotenen Tieren stammt und sie keinen Anlass haben zu glauben, es sei extra für sie getötet worden (Ajahn Brahmavamso – What the Buddha say about eating meat).

Mehrere Textstellen im Kanon zeigen, dass Fleischkonsum zur Zeit des Buddha nicht unüblich war (Meat-eating). Einige Fleischarten waren allerdings aus besonderen Gründen untersagt – etwa Fleisch von Menschen, Elefanten, Pferden, Hunden sowie von bestimmten wilden Raubtieren – vor allem aus Respekt oder um kein gefährliches Aasgeruch-Aroma auszuströmen (Ajahn Brahmavamso – What the Buddha say about eating meat). Insgesamt lässt sich festhalten, dass der frühe Buddhismus keinen völligen Vegetarismus kannte. Das Nicht-Töten wurde als zentrale Tugend gelehrt, doch das Essen von Fleisch unter obigen Einschränkungen galt nicht als Verstoß gegen dieses Gebot (Are All Buddhists Vegetarian?). Diese Haltung prägt bis heute vor allem die Theravāda-Tradition.

Theravāda-Tradition: Pragmatismus und individuelles Gelübde

Die Theravāda-Schule, die sich auf die ältesten überlieferten Lehren stützt, hält im Allgemeinen an der vom Buddha etablierten Regelung fest. Weder Mönchen noch Laien wird hier ein strikter Vegetarismus zwingend vorgeschrieben; es gilt als persönliche Entscheidung oder zusätzliches asketisches Gelübde des Einzelnen (Are All Buddhists Vegetarian?) (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). In vielen Ländern des Theravāda-Buddhismus (wie Thailand, Sri Lanka, Birma oder Kambodscha) nehmen Ordensangehörige Fleisch zu sich, wenn es ihnen dargebracht wird. Die Vinaya-Vorschrift besagt, dass ein Bhikkhu dargebrachtes Fleisch essen darf, solange er nicht „Zeuge der Tötung wurde und nicht annehmen muss, dass das Tier extra für ihn getötet wurde“ (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). Darauf basiert die Ansicht, es bestehe kein ethisches Problem, Fleisch zu verzehren, sofern man selbst nicht am Töten beteiligt war. Die Verantwortung für die Tötung liege in diesem Fall beim Spender oder Schlachter, nicht beim Mönch, der das Almosen annimmt (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications).

Gelehrte und Theravāda-Mönche betonen, dass der Buddha diese Regel aus Mitgefühl sowohl für Tiere als auch für die Laien gab: Einerseits sollte kein Tier eigens für einen Mönch getötet werden, andererseits sollten Almosengeber sich wertgeschätzt fühlen und nicht vor den Kopf gestoßen werden, wenn ihre Gabe verschmäht würde (Meat-eating) (Meat-eating). So erklärt z.B. Ajahn Brahmavamso, ein westlicher Theravāda-Mönch, dass Mönche zwar durchaus vegetarische Kost ermutigen können, aber aus Dankbarkeit und Demut alles Angenommene verzehren, ohne zu klagen (Special Interest – Urban Dharma) (Meat-eating). Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn die Laiengemeinschaft – etwa aus eigenem Antrieb – nur vegetarische Speisen darbietet, ernähren sich auch die Mönche vegetarisch; doch es wird kein Zwang ausgeübt (Meat-eating).

Für Laien im Theravāda gilt ähnlich, dass Vegetarismus als verdienstvoll, aber freiwillig betrachtet wird. Viele Laienanhänger verzichten an buddhistischen Feiertagen oder Uposatha-Tagen auf Fleisch, ohne jedoch grundsätzlich Veganer oder Vegetarier zu sein. So ist z.B. in Ländern wie Thailand der generelle Fleischkonsum in der Bevölkerung recht hoch, auch wenn der Buddhismus weit verbreitet ist – gleichwohl gibt es dort an speziellen Feiertagen oder aus individuellen Gelübden heraus auch Vegetarier.

In der modernen Theravāda-Welt gibt es allerdings Diskussionen und auch Selbstkritik bezüglich dieser pragmatischen Haltung. Manche weisen darauf hin, dass auch der passiv geduldete Verzehr von Fleisch indirekt Gewalt unterstützt. Kritiker nennen die traditionelle Argumentation inkonsequent oder sogar heuchlerisch, da Mönche durch ihr Vorbild den Fleischkonsum fördern und in der Realität oft Tiere extra geschlachtet werden, um genügend Fleisch für Klosterfeste bereitzustellen (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). So schilderte der Mönch Bhante Dhammika entsetzt, wie in Tibet anlässlich religiöser Zeremonien ganze Rinderherden zur Schlachtung vorgeführt wurden, um Fleisch für Lama-Gelage bereitzustellen (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). In jüngerer Zeit entscheiden sich auch im Theravāda einzelne Klöster und Praktizierende vermehrt für Vegetarismus aus Mitgefühl. Diese Entwicklung ist jedoch individuell und nicht doktrinär verankert: Vegetarismus bleibt im Theravāda eine Option, keine Pflicht (Are All Buddhists Vegetarian?). Wichtig ist, dass niemand ein Tier selbst tötet oder den Tötungsakt in Auftrag gibt – das wäre klar gegen das erste Gebot. Das Essen bereits vorhandener Fleischspeisen wird hingegen traditionell als ethisch vertretbar angesehen, solange die oben genannten Reinheitskriterien erfüllt sind.

Mahāyāna-Tradition: Mitgefühl und das Ideal des Vegetarismus

In den Schulen des Mahāyāna-Buddhismus gewann der Vegetarismus einen weit bedeutenderen Stellenwert. Mahāyāna-Lehren betonen das Bodhisattva-Ideal – also das Gelübde, zum Wohle aller fühlenden Wesen nach Erleuchtung zu streben – und daraus folgend ein umfassendes Mitgefühl (karuṇā) für alle Lebewesen. Vor diesem Hintergrund verurteilten viele Mahāyāna-Sūtras den Fleischverzehr ausdrücklich als unvereinbar mit dem Geist des Mitgefühls. So heißt es z.B. im Laṅkāvatāra-Sūtra, einem wichtigen Mahāyāna-Text, in aller Deutlichkeit, dass Bodhisattvas keinerlei Fleisch essen sollen (Vegetarianism in Buddhism – page 1 – General Buddhism – dorjeshugden.com). Tatsächlich verbietet der Buddha in mehreren Mahāyāna-Sūtras wie dem Laṅkāvatāra-Sūtra, dem Mahāyāna-Mahāparinirvāṇa-Sūtra oder dem Aṅgulimālīya-Sūtra seinen Anhängern den Konsum von Fleisch gänzlich (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Diese Sūtras lehren, dass jemand, der großes Mitgefühl entwickeln will, keine Tiere essen dürfe, da er alle fühlenden Wesen wie seine eigenen Verwandten betrachten solle (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). In einer Passage des Aṅgulimāla-Sūtra fragt der Bodhisattva Mañjuśrī den Buddha, warum er selbst kein Fleisch esse; der Buddha antwortet, er sehe alle Wesen als mit Buddha-Natur begabt an – deswegen könne er ihr Fleisch nicht zu sich nehmen (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Mahāyāna-Schriften begründen den Vegetarismus also sowohl mit der Wiedererkennung aller Wesen als im Kern gleichwertig (Stichwort Buddha-Natur) als auch mit der Tugend des grenzenlosen Mitgefühls, das keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier macht (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications) (Vegetarianism in Buddhism – page 1 – General Buddhism – dorjeshugden.com).

Historisch führte diese Einstellung dazu, dass in den vom Mahāyāna geprägten Regionen der Vegetarismus vor allem für Mönche und Nonnen zur Norm wurde. Bereits im 6. Jahrhundert erließ der chinesische Kaiser Wu von Liang ein Edikt, das allen monastischen Buddhisten seines Reiches den Fleischkonsum untersagte – beeinflusst durch Mahāyāna-Lehren wie das Nirvāṇa-Sūtra (Emperor Wu of Liang – Khyentse Foundation). Seitdem ist in weiten Teilen Ostasiens (China, Korea, Vietnam etc.) die vegetarische/vegane Lebensweise integraler Bestandteil des Klosterlebens. So verzichten z.B. bis heute praktisch alle chinesisch-buddhistischen Ordinierten auf Fleisch, Fisch und oft auch auf Zwiebeln und Knoblauch (letztere aus rituellen Gründen). Für die Laienanhänger wurde der Vegetarismus im Mahāyāna zwar nicht als strikte Pflicht verankert, gilt aber als besonders verdienstvoll. Oft legen Mahāyāna-Laien Gelübde ab, an bestimmten Tage des Mondkalenders oder generell aus Boddhisattva-Gesinnung fleischlos zu leben (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). Ein Beispiel sind die „vegetarischen Tage“, an denen gläubige Familien in China oder Vietnam regelmäßig auf tierische Produkte verzichten, um gutes Karma zu sammeln. Insgesamt hat der Mahāyāna-Buddhismus in Asien eine Kultur des Vegetarismus hervorgebracht, die über das rein Religiöse hinausstrahlt – man denke etwa an die vielfältigen vegetarischen Küchen in China oder das Konzept des shōjin ryōri (klösterliche Zen-Tempelküche) in Japan.

Allerdings ist die Praxis nicht überall einheitlich. Japan bildet eine bemerkenswerte Ausnahme: Obwohl dort ebenfalls Mahāyāna-Schulen dominieren (Zen, Reines Land usw.), wurde in der Meiji-Zeit das bis dahin bestehende Klostergebot des Vegetarismus aufgehoben. Seit dem 19. Jahrhundert durften japanische Mönche offiziell heiraten und Fleisch essen, was viele übernahmen. Daher kennt der japanische Buddhismus heute kein allgemeines Fleischverbot für Ordinierte, ähnlich wie der Theravāda (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). Dennoch gibt es auch in Japan traditionsbewusste Untergruppen (etwa in der Sōtō-Zen-Schule), die weiterhin vegetarisch leben und den Wert des Verzichts betonen (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). In anderen ostasiatischen Ländern jedoch – z.B. China, Taiwan, Vietnam – ist es nach wie vor die Regel, dass Mönche und Nonnen Vegetarier sind und auch von Laien ein solches Verhalten als tugendhaft anerkannt wird (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal).

Aus ethischer Sicht wird im Mahāyāna immer wieder hervorgehoben, dass Fleischverzehr mit dem Bodhisattva-Ideal kollidiert. Ein Bodhisattva übt sich in universaler Empathie: Er betrachtet alle fühlenden Wesen als einstige Mütter, Väter oder Kinder aus unzähligen Wiedergeburten und will keinem Leid zufügen (Vegetarianism in Buddhism – page 1 – General Buddhism – dorjeshugden.com). Vor diesem Hintergrund impliziert der regelmäßige, gedankenlose Verzehr von Fleisch eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Tiere, die mit dem Mitgefühlstraining eines Bodhisattva unvereinbar ist (Vegetarianism in Buddhism – page 1 – General Buddhism – dorjeshugden.com). So formulieren es Mahāyāna-Lehrer: Wer ernsthaft den Weg des großen Mitgefühls (Mahākaruṇā) gehe, werde natürlicherweise den Wunsch entwickeln, keine Tiere mehr zu essen (Vegetarianism in Buddhism – page 1 – General Buddhism – dorjeshugden.com) (Vegetarianism in Buddhism – page 1 – General Buddhism – dorjeshugden.com). Mahāyānisten argumentieren auch karmisch: Schon das Kaufen von Fleisch bedeute, einen Schlachter mit dem Töten zu beauftragen – damit lade man indirekt negatives Karma auf sich und untergrabe das Gelübde des Nichtschädigens (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Folgerichtig legten viele Bodhisattva-Gelübde in Mahāyāna-Quellen fest, dass ein Aspirant kein Fleisch essen dürfe. Diese strikte Haltung unterschied den Mahāyāna schon früh vom sogenannten Hīnayāna (d.h. Schulen wie dem heutigen Theravāda). Tatsächlich vermuten manche Gelehrte, dass die Entwicklung des Vegetarismus im Mahāyāna eng mit der Lehre von der Tathāgatagarbha (der allen innewohnenden Buddha-Natur) verknüpft ist (Meat-eating). Die Auffassung, jedes Wesen trage das Keim-Buddha-Sein in sich, habe die Mahāyāna-Praktizierenden besonders dazu motiviert, anderen Lebenwesen größtmöglichen Respekt entgegenzubringen – einschließlich der Ablehnung sie zu verzehren (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications) (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Vegetarismus im Mahāyāna als ethisches Ideal gilt, vor allem für Ordensmitglieder. Zwar sind nicht alle Mahāyāna-Buddhisten Vegetarier – unter den Laien isst eine Mehrheit auch Fleisch, je nach Region und Lebensumständen (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal) (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal) – doch der Verzicht auf tierische Produkte wird eindeutig als Tugend und Ausdruck spirituellen Mitgefühls hochgehalten. In vielen Klöstern Ostasiens werden rein pflanzliche Mahlzeiten zubereitet, und große buddhistische Meister haben den Vegetarismus aktiv gefördert. Ein Beispiel aus neuerer Zeit ist der vietnamesische Zen-Meister Thích Nhất Hạnh, der in seinem Kloster in Frankreich ausschließlich vegane Kost einführte. Er begründete dies damit, dass echte Liebe und Barmherzigkeit alle Lebewesen einbeziehen muss: „Auch ‚vegetarisch‘ sein bedeutet hier, dass wir keine Milch- und Eiprodukte konsumieren, denn sie sind Produkte der Fleischindustrie. Wenn wir aufhören zu konsumieren, werden sie aufhören zu produzieren“ (Quote by Thich Nhat Hanh: “Being vegetarian here also means that we do not…”). Diese Aussage zeigt, wie Mahāyāna-Praktizierende heute den traditionellen Vegetarismus konsequent weiterdenken – bis hin zum Veganismus – um Leid für Tiere vollständig zu vermeiden.

Vajrayāna-Tradition: Tibetischer Buddhismus zwischen Ritual und Realität

Die Vajrayāna-Tradition, insbesondere der tibetische Buddhismus, bildet in Sachen Ernährungsregeln einen Sonderfall. Streng genommen ist der Vajrayāna eine Ausprägung des Mahāyāna (mit zusätzlichen tantrischen Methoden) und teilt dessen philosophische Grundlagen wie das Mitgefühlsideal. In der Praxis war der tibetische Kulturraum jedoch lange durch klimatische und soziale Gegebenheiten geprägt, die einen verbreiteten Vegetarismus erschwerten. Tibet ist ein Hochland mit karger Vegetation, in dem tierische Nahrung – Yakfleisch, Butter, Trockenfleisch – traditionell zu den Hauptnahrungsmitteln gehörte. Entsprechend aßen tibetische Mönche und Lamas über viele Jahrhunderte hinweg Fleisch, da pflanzliche Alternativen selten verfügbar waren.

Interessanterweise versuchten die indischen buddhistischen Lehrer, die im 8. Jahrhundert den Vajrayāna nach Tibet brachten (etwa Śāntarakṣita und Guru Padmasambhava), die Tibeter von Anfang an zum Vegetarismus anzuhalten (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Überliefert ist, dass Padmasambhava den Neubuddhisten untersagte, Fleisch zu essen – doch „die Tibeter aßen trotzdem Fleisch, weil es ihre alte Tradition war“ (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Ähnliches berichtete der indische Meister Atiśa, der im 11. Jahrhundert nach Tibet reiste: Er soll entsetzt festgestellt haben, dass in Klöstern Yakfleisch in rauen Mengen verzehrt wurde, und darauf gedrängt haben, den Konsum zu reduzieren. Diese Mahnungen zeitigten lokal Wirkung – es gab immer wieder tibetische Schulen und Heilige, die persönlich vegetarisch lebten und ihre Schüler dazu anhielten. Beispielsweise sind in der Kagyü-Schule mehrere Lamas des Mittelalters als Vegetarier bekannt (etwa der berühmte Meister Gampopa im 12. Jh.) (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Auch in der Gelug-Schule (der Schule des Dalai Lama) predigten einzelne Gelehrte Mitleid mit Tieren. Allerdings blieb das System Tibet in Gänze omnivor: Fleisch war ein fester Bestandteil der tibetischen Küche, auch in Klöstern, und wurde oft sogar bei rituellen Anlässen (sogenannten tsog-Opfern) symbolisch verwendet. In bestimmten hochrangigen Vajrayāna-Ritualen, vor allem im höchsten Yoga-Tantra, gibt es die symbolische Verwendung von „fünf Fleischsorten“ (darunter ungewöhnlicherweise Fleisch von Kuh, Hund, Elefant etc.) und „fünf Nektaren“ – dies jedoch in rein ritueller, transformativer Absicht (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Solche Praxis wurde esoterisch interpretiert: Nur Adepten mit hohen Verwirklichungen dürfe es vorbehalten sein, die „fünf Fleischsorten“ bei Ritualen zu nutzen – und dann auch nur Fleisch von Tieren, die eines natürlichen Todes gestorben sind, nicht von getöteten (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Für gewöhnliche Praktizierende seien stattdessen symbolische Ersatzmittel (wie Früchte oder Gebäck) anstelle von Fleischopfern zu verwenden (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Diese tantrischen Lehren zeigen, dass der Vajrayāna zwar in der Theorie die Unterscheidung von rein und unrein transzendiert, in der Praxis aber kein Freibrief für beliebigen Fleischverzehr gegeben war – im Gegenteil wurde betont, dass man ein hohes Mitgefühl und yogische Kräfte bräuchte, um solche Tabus rituell zu überschreiten (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications).

Dennoch galt bis ins 20. Jahrhundert hinein: Weder Mönche noch Laien im tibetischen Buddhismus waren üblicherweise Vegetarier (Buddhismus und Fleisch | vegan.eu | Dein veganes Infoportal). Fleischessen war sozial akzeptiert und wurde von geistlichen Autoritäten stillschweigend toleriert, solange niemand selbst tötete. Auch im Vajrayāna hielt man sich also oft an die alte Regel: Nicht die Speise ist entscheidend, sondern die Absicht. Ein tibetischer Spruch besagt sinngemäß: „Ohne Mitgefühl nützt dir Vegetarismus nichts; mit wahrhaftem Mitgefühl wirst du irgendwann automatisch zum Vegetarier.“ Diese Haltung reflektiert, dass die spirituelle Gesinnung wichtiger genommen wurde als äußere Diätvorschriften. Allerdings haben sich in jüngerer Zeit – vor allem seit dem Exil vieler Tibeter in Indien und dem Westen – die Verhältnisse geändert. Mit besserer Versorgungslage und beeinflusst von globalem Tierschutzdenken setzen sich nun auch im tibetischen Buddhismus verstärkt Stimmen für Vegetarismus ein. Ein Wendepunkt war das Jahr 2007: Anlässlich des großen jährlichen Gebetsfests der Kagyü-Schule in Bodhgaya hielt der 17. Karmapa (Ogyen Trinley Dorje) eine flammende Rede für den Vegetarismus, in der er ausführlich darlegte, dass Fleischessen mit dem Mitgefühl und dem Nicht-Töten im Widerspruch stehe (Vegetarian, Feminist Tibetan Monk Taking the US Ivy Leagues By Storm | HuffPost UK Life). Er zitierte buddhistische Schriften und Logik und verkündete schließlich ein Verbot für alle Mönche und Nonnen seiner Klöster, Fleisch zu konsumieren, indem er den Verkauf und Verzehr von Fleisch in den von ihm geführten Klöstern untersagte (Vegetarian, Feminist Tibetan Monk Taking the US Ivy Leagues By Storm | HuffPost UK Life). Diese klare Position – “Fleischessen widerspricht dem Geist des Mitgefühls” – schockierte damals viele tibetische Teilnehmer, da sie eine so deutliche Ansage nicht gewohnt waren (Vegetarian, Feminist Tibetan Monk Taking the US Ivy Leagues By Storm | HuffPost UK Life). Seitdem haben zahlreiche tibetisch-buddhistische Einrichtungen im Exil ähnliche Schritte unternommen. In großen Klosteruniversitäten der Gelug-Schule in Indien (z.B. Sera, Ganden, Drepung) wurde in den 2010er-Jahren per Klosterstatut Fleisch von Speiseplänen verbannt; Zuwiderhandlungen von Mönchen werden sogar mit Geldstrafen geahndet (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Auch im Himalaya-Raum (Ladakh, Bhutan, Nepal) gibt es vermehrt Klöster, die ihre Gemeinschaft zu vegetarischer Lebensweise anhalten (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Der 14. Dalai Lama selbst förderte in den 1960er Jahren den Vegetarismus, indem er alle tibetischen Klöster in Indien anwies, vegetarisch zu kochen – allerdings konnte er persönlich aus gesundheitlichen Gründen nicht dauerhaft vegan/vegetarisch leben und nimmt zeitweise ärztlich verordnet Fleisch zu sich (Why can’t the Dalai Lama be a vegetarian?). Dennoch ermutigt er aus ethischer Sicht seine Anhänger: „Wir müssen unbedingt den Vegetarismus fördern“, sagte der Dalai Lama 2021 und verwies auf das Leid der Tiere und die Verantwortung der Menschen (The Dalai Lama Encourages a Switch to Vegetarianism – The Beet) (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications).

Somit befindet sich der Vajrayāna in einem Wandel: Was lange pragmatische Notwendigkeit war, wird heute neu bewertet im Lichte buddhistischer Mitgefühlsethik. Viele tibetische Lehrer – von Lama Zopa Rinpoche (Gelug) bis Chatral Rinpoche (Nyingma) – waren oder sind überzeugte Vegetarier und appellieren an ihre Schüler, es ihnen gleichzutun (Vegetarianism and Tibetan Buddhism – ‚If you eat meat you are not …) (Nine Questions About Vegetarianism – Mandala Publications). Gleichzeitig besteht Verständnis dafür, dass im tibetischen Kulturraum Fleischessen teilweise (noch) Realität ist, insbesondere in abgelegenen Gebieten. Insgesamt lässt sich sagen, dass im modernen Vajrayāna der Idealismus des Mahāyāna (Mitgefühl, Respekt vor allem Leben) zunehmend das traditionelle Verhalten prägt. Die Diskrepanz zwischen Lehre und Praxis – früher teils groß – wird kleiner, da immer mehr Praktizierende freiwillig auf tierische Nahrung verzichten, sofern es die Umstände erlauben.

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